Eine Nacht, Markowitz
war er damals gewesen, vor der geballten Macht Feinbergs und des Irgun-Vizechefs, als sei allein schon seine Existenz eine Beleidigung für die gesamte Männerwelt. Jetzt, vor der leicht gehobenen Braue des Irgun-Vizechefs, kam er sich klein und armselig vor, ein einfacher Landwirt, der die großen Köpfe mit Kleinkram belästigte. Und doch bot er alle Kräfte auf, um fortzufahren. »Ich habe Feinberg am Tag des Kriegsausbruchs getroffen. Weißt du, worüber er mit mir gesprochen hat? Über seinen Sohn, der schon laufen konnte. Über den Geruch seines Stuhlgangs. Du hast richtig gehört: Über den Geruch von Babykacke.« Der Irgun-Vizechef hob die Braue noch ein wenig höher und fragte, worauf Jakob Markowitz verdammt noch mal hinauswolle. Jakob Markowitz schluckte seinen Speichel hinunter und beharrte: »So ein Mensch, der den Krieg nur als dumpfes Begleitgeräusch seiner Alltagsmelodie empfindet, der fährt nicht gleich nach Kriegsende weg, um Nazis zu fangen. Er bleibt zu Hause, in seinem Alltag. Und wenn er geflohen ist, gab es sicher einen Grund dafür.«
»Sagen wir mal, es gab einen Grund. Was geht dich das an?«
Jakob Markowitz beugte sich im Stuhl vor. »Ich bin sein Freund. Wie du’s mal gewesen bist. Ich weiß nicht, was hier passiert ist, seit ich in den Krieg gezogen bin. In der Moschawa wird viel geredet und wenig gesagt. Aber ich weiß, dass etwas geschehen ist. Etwas Schlimmes. Jetzt ist Sonia hier, in Tel Aviv, und Feinberg ist in Europa. Diese Situation mag dir ja sehr gelegen sein, doch mir bereitet sie große Sorgen.«
Der Irgun-Vizechef atmete schwer. Seine Lippen zitterten jetzt so heftig, dass er sich die Hand vor den Mund halten musste. Jakob Markowitz ließ ihn nicht aus den Augen. Nun wirkte er nicht mehr so klein. »Schick mich nach Europa, damit ich mit ihm zurückkommen kann.«
»Wir sind eine Organisation zur Rettung des Landes, Markowitz, kein Reisebüro.«
Jakob Markowitz stand auf und machte einen Schritt zur Tür. Der Irgun-Vizechef rührte sich nicht vom Fleck. Er hörte die Tür knallen und Jakob Markowitz raschen Fußes das Gebäude verlassen. Eine lange Weile blieb er sitzen, begleitete in Gedanken Jakob Markowitz, der den ganzen Weg von der Moschawa gekommen war und nun mit leeren Händen wieder zurückkehrte. Doch Jakob Markowitz kehrte nicht ins Dorf zurück. Er machte sich auf zum Hafen. Dort angekommen, zog er den schweren Umschlag hervor, den er von dem Mann in der Windjacke erhalten hatte, und bezahlte die Überfahrt nach Europa. Jetzt war der Umschlag etwas leichter. Hastig rannte er an Bord eines Schiffes, das jeden Augenblick ablegen sollte. Einen Moment vor dem Auslaufen gelang es ihm noch, einen jungen Mann mit einem Telegramm an Bella zu beauftragen: »Bin abgereist. Komme mit Feinberg zurück.«
Europa verwirrte Jakob Markowitz vom ersten Augenblick an. Sosehr er ihn auch hassen wollte, diesen finsteren Kontinent, so sehr erinnerte er sich auch daran, dass Bella aus dieser Finsternis zu ihm gekommen war. Dass er selbst ihr entstammte. Er hatte gehofft, Europa gebrochen, zerstört vorzufinden, dann hätte er ihm vielleicht verzeihen können. Er hatte Trümmerhaufen erwartet und fand gepflasterte Wege und Straßen. Und darauf – unzählige Menschen. Er suchte in den Gesichtern der Anwesenden etwas, was an die Gesichter derer, die nicht mehr waren, erinnerte, fand es aber nicht. Seine Füße gingen über die Pflastersteine, auf denen Schädel zerborsten waren, doch außer den hopsenden Füßen kleiner Mädchen, die Himmel und Hölle spielten, hörte er nichts. Diese Erkenntnis ließ in ihm Wut auf dieses vergessliche Land aufsteigen. Aber auch Neid. Er nahm sich fest vor, vierundzwanzig Stunden auf den Straßen Berlins zu verbringen und dabei kein einziges Mal an den Krieg zu denken. Einen ganzen Tag durch die Straßen der Stadt zu gehen, ohne sechs Millionen Zeugen auf den Schultern zu tragen. Wenigstens für einige Stunden Volk und Heimat und Vergangenheit abzuschütteln. Es gelang ihm nicht. Sosehr er sich auch bemühte. Da sagte sich Jakob Markowitz: Es ist ja auch nicht möglich, einen ganzen Tag ohne Körpergeruch herumzulaufen. Wir können diesen Duft nicht ablegen, der sich uns schon unverkennbar angeheftet hat, den Duft des Opferseins.
In den nächsten Tagen fand er sich als Schwarzfahrer in öffentlichen Verkehrsmitteln wieder. Ohne es geplant zu haben, begann er auch, in Lebensmittelläden Süßigkeiten und Gebäck mitgehen zu lassen. Einige Male
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