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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Szenerie bieten. Ein Storchenschwarm würde am Himmel schweben, ein schimmernder Delfin sich der Küste nähern, die Sonne in einem fantastischen Farbenspiel untergehen. Schließlich war dies keine normale Fahrt nach Europa, hier begann der Weg in sein Leben. Von Geburt an hatte Jakob Markowitz das Gefühl gehabt, nur eine Randfigur in der Geschichte anderer Leute zu sein, eine Nebenhandlung, ein ferner Mond, der sein Licht von irgendeiner Sonne erhielt. Er war der Sohn seiner Eltern und Untergebener des Gruppenführers und Seev Feinbergs Freund. Jetzt spürte er zum ersten Mal, dass er, Jakob Markowitz, ein heroisches Leben führte, von dem man noch erzählen würde. Alles Bisherige war nichts als eine Skizze gewesen, die gedankenlose Kritzelei eines Künstlers, ehe er sich entschlossen an die Staffelei setzte. Deshalb dachte er nicht mehr an sein Haus in der Moschawa und sehnte sich nicht nach ihren Einwohnern, bedauerte lediglich, auf seiner Flucht Jabotinskys Schriften zurückgelassen zu haben, außerdem empfand er Mitleid mit den Tauben.
    Als Jakob Markowitz sich nach einer halben Stunde auf See die Seele aus dem Leib kotzte, betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser. Zwischen den schwimmenden Kotzbrocken sah er die unspektakulären Augen, die normale Nase, die geradezu anödend gewöhnliche Kinnpartie. Aber auf der Stirn entdeckte er etwas Neues, einen energischen Zug, der vorher nicht da gewesen war. Wann sich dieser Zug gebildet hatte, wusste er nicht. War es, als er dem Araber mit einem Stein den Schädel einschlug, oder als er Abraham Mandelbaum dreist belog, oder vielleicht als er dem Irgun-Vizechef die Stirn bot, ja regelrecht mit ihm stritt, als er ihn anfangs nicht mit auf die Fahrt schicken wollte? Wie dem auch sei, es war ein eklatantes Zeichen. Jakob Markowitz musterte den neuen Zug auf seiner Stirn, den Spalt, durch den jeden Augenblick der Mann hervorbrechen würde, der er sein sollte. Er wischte sich den letzten Rest Erbrochenes aus dem Mundwinkel und wandte sich dem Deck zu.
    Bald merkte er, dass er sich geirrt hatte. Das Bordleben unterschied sich fast in allem vom Dorfleben, aber in allem, was Jakob Markowitz anging, blieb es wie gehabt. Die Blicke der Passagiere glitten über sein Gesicht und weiter, wie die Urintropfen, die die Männer jede Nacht vom Rand des Decks ins Meerwasser fallen ließen. Keiner hasste ihn, keiner verspottete ihn – aber es suchte auch keiner Schutz bei Seev Feinbergs Retter, dem Arabertöter, dem Schächterbezwinger, Jakob Markowitz. Hatte er zuvor gemeint, bald aus dem Ei seiner Jugend zu schlüpfen, so entdeckte er nun, dass ihn gar keine Schale umhüllte, sondern seine eigene Haut. Als Jakob Markowitz das Thema mit seinem Freund besprechen wollte, erwies sich das als vergebliche Liebesmüh: Seev Feinberg wurde noch vor Auslaufen des Schiffes zum unangefochtenen König der Seereise gekürt. Er schritt über die Mole, umringt von jungen Burschen, einem Rudel sabbernder Hündchen, das noch und noch Geschichten des Mannes aufsaugen wollte, der bekanntermaßen der beste Freund des Irgun-Vizechefs war. Und Seev Feinberg tat den Jungs den Gefallen. Er erzählte Geschichten, bis ihm die Kehle kratzte, und sang unzüchtige Lieder, bis ihm die Zunge verdorrte, brachte seine Zuhörer zum Lachen und übertönte sie mit seinem Gelächter, scheuchte ganze Zugvogelschwärme aus der Flugbahn. Obwohl er nicht zum Kommandeur der Operation ernannt worden war – der Irgun-Vizechef hatte diese Aufgabe einige Monate zuvor einem jungen Mann namens Michael Katz übertragen –, bestand kein Zweifel, wer der eigentliche Befehlshaber war. Hätte Seev Feinberg Anweisung erteilt, einen dreitägigen Abstecher nach Griechenland einzulegen, um nackt badende Helleninnen am Strand zu beobachten, hätte der Kapitän gehorcht, und vermutlich hätte Seev Feinberg das auch getan, wenn sein Herz nicht so sehnlich nach Sonia verlangt hätte. Stattdessen redete und sang und lachte er weiter, und nur gelegentlich spürte er, dass seine Stimme sich vom Körper löste, ohne ihn vorwärtspreschte, während Seev Feinberg selbst weit zurückblieb. In solchen Momenten war Seev Feinberg es leid, Seev Feinberg zu sein. Jakob Markowitz merkte es nie. Wie konnte ein Mensch schließlich müde werden, Seev Feinberg zu sein?
    Bei Sonnenaufgang trafen sie sich immer an Deck. Jakob Markowitz kam hoch, um sich zu vergewissern, dass die Sonne tatsächlich herauskam, Seev Feinberg war auf dem Weg ins Bett nach einer

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