Eine Nacht, Markowitz
standen für das gängige Schönheitsideal einen Millimeter zu weit auseinander. Die Sonne streute Sommersprossen über ihr Gesicht, und ihre Adlernase hätte die Worte jedes deutschen Propagandisten bestärkt. Mittelgroß, annehmbare Brüste, ein Po, von dem es nicht mehr zu erzählen gab, als dass er vorhanden war. Und doch kamen sie jeden Tag angelaufen, um sie am Strand stehen zu sehen. Die Schüchternen mit schmachtendem Blick, die Mutigen mit scharfen Witzen, drängten sie sie, Feinberg aufzugeben und einen der Ihren zu erhören. Einen Schnauzer hatten sie zwar nicht zu bieten, und ihr Lachen ließ nicht das Laub von den Obstbäumen rieseln, aber zumindest waren sie hier, und das war nicht zu verachten. Sonia dankte ihnen von ganzem Herzen und fuhr fort, Seev Feinberg zu beschimpfen. Die Frauen wiederum fingen an, Sonia zu beschimpfen. Fragen wie »Aber was hat sie denn an sich?« schwirrten nun durch die Luft wie ein Wespenschwarm. Manche sagten, ihre Hingabe sei betörend. Tief im Herzen wolle jeder Mann, auch wenn er kein Seemann sei, eine Frau, die am Strand auf seine Heimkehr warte. Alles billige Romantik und nichts weiter. Hingabe an sich betört nicht, ihr Zauber beruht auf der Person, die sich hingibt. Ein unschöner Kürbiskopf, der am Strand steht, wird entweder Moos ansetzen oder sich in einen Leuchtturm verwandeln. Andere führten den Orangenduft an. Tatsächlich, Sonias Haut roch nach Orangen, ein unverwechselbarer, schwerer und süßer Duft. Stand man bei der Arbeit neben Sonia und atmete tief ein, meinte man augenblicklich, im Jaffaer Hafen zu sein, umringt von Kisten über Kisten voller Orangen. Der Orangenduft berauscht zwar, aber ebenso der Duft von Jasmin und Feigen. Im ganzen Land verstreut lebten viele Frauen, deren Haut einen besonderen Duft abgaben: Alle kannten die aus Kibbuz Degania, die Handschuhe tragen musste, um mit ihren Honighänden keine Insekten anzulocken, und dann gab es das Mädchen aus Rischon LeZion, das angeblich so starken Myrtenduft verströmte, dass Allergiker niesen mussten. Orangenduft ist ja gut und schön, aber von da bis zum Liebeswahn ist es noch ein weiter Weg.
Was die Hingabe und die Orangen nicht erklären konnten, erklärte vielleicht die Glut. Das Feuer, das in Sonia loderte, taute eiskalte Füße auf, wärmte die Eingeweide, juckte in den Fingerspitzen. An regnerischen Wintertagen, wenn einem das Wasser übers Gesicht rann und die Schuhe mit Schlamm und Trübsal füllte, sahen die Leute Sonia an, und schon wurde ihnen warm. Und im Sommer, wenn das ganze Dorf sich mit einem Staubschleier bedeckte und die Häuser mit einer erstickenden dünnen Sandschicht überzogen wurden, war Sonia die Einzige, deren Farben nicht verblassten. Sie war nicht schön, das wussten ihre Mitmenschen, und doch reckten sie ihr die Gesichter entgegen wie Sonnenblumen der Sonne.
Eines Tages kam Abraham Mandelbaum sie am Strand besuchen. Zuerst bemerkte sie ihn nicht. Sie war gerade dabei, genauestens zu beschreiben, wie sie Seev Feinberg bei seiner Heimkehr jeden Fingernagel einzeln ausreißen würde. Als sie den Schächter erkannte, fürchtete sie im ersten Moment, er könnte sich ein paar Ideen abgehört haben. Doch sogleich beruhigte sie sich damit, dass ein erfahrener Schächter wie Abraham Mandelbaum im Umgang mit Fleisch und Nägeln kaum auf ihren Rat angewiesen war, und fragte ihn, was ihn hergeführt habe. Seit dem Tag, an dem Jakob Markowitz und Seev Feinberg die Flucht ergriffen hatten, waren sie sich auf der Straße aus dem Weg gegangen. Abraham Mandelbaum verschränkte verlegen die dicken Finger, und Sonia dachte, wenn seine Länge von fast zwei Metern und sein Gewicht von über hundertzehn Kilogramm nicht wären, könnte man ihn für ein Kind halten. Mit gesenktem Blick und zaghafter Stimme sagte er, er sei gekommen, um sich an ihrem Zorn anzustecken.
»Das ist keine Grippe, weißt du.«
»Ja, aber, vielleicht doch.« Und dann rückte er damit heraus, dass er Seev Feinberg schon seit Tagen nicht mehr böse sei, kein bisschen. Sosehr er sich auch bemühe, das Feuer seines Zorns neu zu entfachen, mit detaillierten Gedanken an Seev Feinberg, der sich über seine Frau senkt, habe er doch kein Fünkchen Wut im Herzen.
»Was hast du denn darin?«
»Manchmal, wenn ich in der Fleischerei gerade irgendein Tier zerlegt habe, sitze ich zwischen den Fleischstücken und versuche, sie im Geist wieder zusammenzufügen. Manchmal gelingt es, und ich sehe alles wieder als Ganzes, wie
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