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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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die Vision vom Jüngsten Gericht, das Fleisch auf dem Tisch und die Innereien im Abfall und die zu Boden geworfene Haut und der Kopf, den ich immer mit einem Lappen umwickle, damit Rachel nicht übel davon wird. Und manchmal klappt es nicht, und ich sitze auf dem Schemel, umgeben von Stücken, und frage mich, wo das Lamm geblieben ist.«
    Sonia kennzeichnete im Stillen dieses Gespräch als das zweifellos längste, das sie je mit Abraham Mandelbaum geführt hatte. Vielleicht erriet sie auch, dass es das längste Gespräch war, das Abraham Mandelbaum je im Leben geführt hatte.
    »Ich glaube, ich versteh nicht recht, Abraham. Was hat das Lamm mit Seevik zu tun?«
    »Ich finde ihn nicht, Sonia. Ich finde den Zorn nicht. Als ich an dem Morgen damals vor Feinbergs Haus ankam, war ich bereit, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Aber schon als ich heimkehrte, wollte ich keinen mehr umbringen. War einfach müde.«
    Erstmals seit sie am Strand stand, wandte Sonia die Augen vom Meer ab. Sie drehte sich zu Abraham Mandelbaum um und ergriff seine Hände, die Hände eines Schächters. Ihre Augen standen weit genug auseinander, um ihre Gefühle unter sich aufzuteilen: Das rechte Auge war ganz Trauer. Das linke Auge war ganz Mitleid.
    »Meinen Zorn brauchst du nicht, Abraham. Mach dir deinen eigenen. Mach dir was Eigenes.«
    Nachts besuchte der Irgun-Vizechef Sonia. Vor seiner Abreise nach Europa hatte Seev Feinberg ihn beschworen, nach Norden zu fahren und ihr zu sagen, dass er abgereist sei, »und am allerwichtigsten, sag ihr, dass ich wiederkomme«. Der Irgun-Vizechef verriet Sonia nicht den Zweck der Reise, erklärte nur kurz, es sei der einzige Weg gewesen, »seinen Hintern zu retten, der dir ziemlich lieb und teuer ist, so viel ich verstehe«. Danach hatte er nach vorn geblickt, durchs Fenster in die Nacht gespäht, in die er gleich würde zurückkehren können, hatte die Ohren gespitzt, um ihr Dankesgemurmel zu vernehmen. Als das Gemurmel auf sich warten ließ – wo blieb: »Was hätten wir ohne dich bloß machen sollen?«, wo: »Er schuldet dir sein Leben, und ich auch«? –, warf er ihr einen schrägen Blick zu und musterte sie erneut. Langes Üben und ein Schielen von Kindesbeinen an hatten ihn meisterlich befähigt, Menschen mit halbem Auge auszuloten. Ein unbeteiligter Beobachter hätte fälschlicherweise denken können: Da sitzen ein Mann und eine Frau im Wohnzimmer, die Frau blickt an die Wand und der Mann aus dem Fenster. Bezüglich der Frau hätte er recht gehabt, in Bezug auf den Mann die Wahrheit jedoch weit verfehlt. Der Irgun-Vizechef betrachtete Sonia ebenso konzentriert, wie er eine topografische Karte für das nächste nächtliche Kommandounternehmen studiert hätte. Er prägte sich ihre Gesichtszüge genauestens ein: die etwas auseinanderstehenden Augen, soundsoviele Sommersprossen in mehr oder weniger festen Abständen, das breite Kinn. Er bemerkte auch die Falte, die sich zwischen Nase und Lippe eingegraben hatte, und entdeckte, dass Sonia beim Lächeln den linken Mundwinkel leicht anhob, eine Bewegung, die etwas Anmutiges hatte. Insgesamt war sie jedoch recht gewöhnlich, entschieden kein Grund, sich den ganzen Weg von Tel Aviv hierher zu bemühen. Der Irgun-Vizechef empfand Mitleid mit Seev Feinberg, dem vergeudeten Zuchtbullen, der sich an einem so gottverlassenen Ort niedergelassen hatte, an dem nicht nur die Erde ihren Schoß verschloss, sondern auch die Frauen entschieden mittelmäßig waren.
    Er wandte sich wieder vom Fenster ab. Gleich würde er sich von ihr verabschieden. Gleich würde er zur Tür hinausgehen. Der Weg nach Tel Aviv würde dunkel und kalt sein, unterwegs würden alle möglichen Visionen vor ihm auftauchen, von der Sorte, wie sie nur dem erscheinen, der mitten in der Nacht allein des Weges geht. Er war schon aufgestanden, als er Sonias Stimme hörte: »Du kennst ihn vom Schiff, nicht wahr?«
    Der Irgun-Vizechef bejahte, ja, er kenne Seev Feinberg vom Schiff, und wenn sie ihn jetzt bitte entschuldigen wolle, die Zeit dränge. Sonia warf ihm einen belustigten und resoluten Blick zu, die genaue Kopie seines Blicks, wenn er mit seinen Untergebenen sprach, und sagte: »Wenn du ihn auf ein Schiff gesetzt hast, kannst du mir wenigstens seine Geschichte auf dem vorigen erzählen.«
    »Warum?«
    »Wenn ich ihn schon nicht in der Gegenwart sehen kann, höre ich wenigstens etwas über seine Vergangenheit.«
    Der Irgun-Vizechef setzte sich mit unwirschem Gesicht wieder hin. Er hatte noch

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