Eine Nacht, Markowitz
Körper, dem man noch ansah, wie schön er gewesen war. Die runden Brüste, denen die Schwerkraft nichts anhaben konnte, der braune Zopf, fast so dick wie der Strang um ihren Hals. Und natürlich die Ohren, zarte Muscheln, die das Krachen des berstenden Schädels nicht mehr ertragen und in ihrem Schmerz den Händen befohlen hatten, eine Schlinge zu knoten, und den Füßen, auf einen Schemel zu steigen, und dem Körper, sich nach vorn zu neigen. Denn gerade jetzt, als der Kriegslärm verstummte, als die Zeitungen feierlich daherkamen und die Menschen in den Straßen tanzten, gerade jetzt hatte Rachel Mandelbaum begriffen, dass die Geräusche in ihrem Kopf niemals enden würden. Solange die Kämpfe noch andauerten, hatte sie gehofft, wenn die Juden nur siegten, würde das widerliche Krachen des berstenden Schädels in ihrem Kopf verstummen und sie könnte wieder die anderen Geräusche hören – Kinderlachen, das Wispern des Weizenfelds im Wind, das Muhen einer Kuh. Aber nach der Verkündung des Sieges hörte sie nichts mehr als das berstende Geräusch und wusste, es würde sie immer begleiten. Als sie entdeckte, dass der Krieg sie durchaus den ganzen Weg von Europa bis hierher verfolgte, erkannte sie auch, dass sie sich des Endes der Kämpfe nie völlig sicher sein könnte. Dass sie nie wirklich in Sicherheit war.
Wer nicht richtig zu leben wusste, weiß nur selten richtig zu sterben. Rachel Mandelbaum hätte keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können, um sich etwas anzutun. Das ganze Land segelte auf einer Welle von Glück und Freude, schwebte in der Luft vor lauter Erleichterung. Die Dorfbewohner entboten einander freundlich den Friedensgruß, lächelten sogar den verhasstesten Nachbarn zu. Kuchen wurden gebacken, Flaggen gehisst, Männer fielen ihren Frauen um den Hals, Kinder umarmten die Beine ihrer Väter. Die Freude war nicht nur ein Gefühl, sie war das Gebot der Stunde. Eine echte moralische Pflicht. Diese Pflicht hatte Rachel Mandelbaum verletzt. In dem kleinen Museum, das später einmal an der Einfahrtsstraße, zwischen der Falafelbude und dem Sanitärgeschäft, eingerichtet wurde, fehlte der Zeitungsausschnitt, der das Kriegsende anzeigte. Und das nicht von ungefähr: Die Zeitungen schilderten ausführlich die Feierlichkeiten in den Nachbarorten, aber aus der Moschawa berichteten sie ausschließlich über Rachel Mandelbaums Selbstmord, der allgemein als eine Rücksichtslosigkeit angeprangert wurde.
Ein paar Wochen später, als die Freude sich gelegt hatte und das Herz andere Beschäftigungen brauchte, begannen die Dorfbewohner zu fragen, was denn eigentlich mit ihr passiert war, mit Rachel Mandelbaum. Solange die Hochstimmung noch die Fittiche über alle breitete, hatten sie sich in ihrem Schatten erholt und eine ruhige und harmonische Gemeinschaft gebildet. Aber nun war die Hochstimmung weitergeflogen, und die Leute sahen einander an und erinnerten sich ihrer großen Unterschiede. Die eine entdeckte wieder, wie verhasst ihr das Gesicht ihres Mannes war. Der andere erinnerte sich, wie sehr er seine Arbeit verabscheute. Vergessene Schulden, ungelöste Streitigkeiten, Hoffnungen und Eifersüchteleien, all das trat erneut zutage, als die alles überflutende Woge der Freude bei Kriegsende verebbte. Die süße Fülle verschwand, und der graue Alltag zog wieder ein, der schale Geschmack des normalen Lebens. Wie hatten sie sich im Krieg dieses Leben herbeigewünscht, wie innig ihre Gebete, Hoffnungen und Erwartungen darauf gerichtet, und doch schlich sich jetzt ein sehnsüchtiger Unterton in ihre Stimmen, wenn sie jene Tage erwähnten. »Damals«, seufzten sie am Ende der Mahlzeit, »damals gab es Gemeinschaftssinn.« Sie schauten sich um und merkten nichts davon, aber wenn sie Abraham Mandelbaums Fleischerei ansahen, wussten sie: Wenn es eine Chance gab, Gemeinschaftssinn zu spüren, dann sicher dort. Daher fand sich Abraham Mandelbaum, nachdem er die ersten Trauertage in völliger Einsamkeit verbracht hatte, plötzlich von vielen Menschen umringt, die mal fragen, helfen, beraten, unter die Arme greifen wollten: »Das ist doch eine Tragödie für uns alle«, und: »Die ganze Moschawa steht hinter dir.«
Abraham Mandelbaum jagte sie nicht aus dem Haus. Stattdessen verjagte er sich selbst. Die Zimmer wimmelten so von Menschen, dass keiner seine Abwesenheit bemerkte. Stundenlang saß er auf den steinernen Stufen, sah die Sonne schließlich im Meer versinken, und die Hände zog es zu den Liebesbriefen, die
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