Eine Nacht, Markowitz
aufgeben, wenn wir uns anderen Bergen und anderen Festungen zuwenden, wird die Niederlage sich an ihre Stiefelsohlen heften und ihre Finger am Abzug lähmen.«
Jakob Markowitz dachte an den vorigen Anführer, dessen Gesicht wahrscheinlich immer noch in dem Sandhäufchen am Berg steckte. War das Lächeln in seinem Gesicht jetzt breiter geworden? Und würden seine weit aufgerissenen, glasigen Augen sich nun zu süßem, ewigem Schlaf schließen? Solche Gedanken schwebten ihm im Bierdunst durch den Kopf und kamen ihm im Nebel des Alkohols völlig logisch vor. In Wirklichkeit hatte der Anführer die Augen schon beim Fallen geschlossen, und die Eroberung der Festung würde ihnen keinerlei Veränderung bringen, außer dass die Würmer, die sich in den bereits Gefallenen eingenistet hatten, zu anderen Leichen weiterkriechen würden. Aber dieser Gedanke kam Jakob Markowitz gar nicht in den Sinn, und wäre er ihm gekommen, hätte er ihn sicher mit Schlägen verjagt. Stattdessen richtete er die Augen direkt auf den neuen Befehlshaber und sagte: »Wenn du willst, folge ich dir wieder zur Festung.«
»Meist hat es einer, der die Hölle überlebt hat, nicht eilig, sie wiederzusehen.«
Jakob Markowitz zögerte mit der Antwort. Sah er dem neuen Anführer ins Gesicht, wollte er sagen, er habe die Verteidigung der jüdischen Ortschaften im Norden im Sinn. Sah er dem alten Anführer und seinen drei Kameraden ins Gesicht, glaubte er fast, die Ehre ihres Andenkens treibe seine Füße zum Berg. Erforschte er jedoch seine Seele mit weit offenen Augen, sah er, dass weder dieses noch jenes zutraf. Für sich selbst wollte Jakob Markowitz die Festung erobern, allein für sich. Als er Rücken an Rücken mit seinem toten Anführer in die Nacht geschossen hatte, war eine wunderbare, nie gekannte Ruhe über ihn gekommen. Alle Glieder seines Körpers hatten vollkommen harmonisch zusammengewirkt. Zum ersten Mal im Leben war er völlig sicher gewesen, wo er stand und warum. Jetzt, als er benommen im Zelt des Anführers saß, sehnte er sich danach, erneut diese starke Sicherheit zu spüren, den festen Stand seiner Füße auf der Erde, mitten im Kugelhagel. Jakob Markowitz erhob sich langsam und salutierte dem Anführer mit bebender Hand.
»Wenn wir uns wieder sprechen, Chef, wird uns das ganze Tal zu Füßen liegen.«
Sie sprachen sich nicht wieder. Jakob Markowitz’ neuer Anführer fiel unweit der Stelle, an der sein alter Anführer gefallen war, aber der neue Anführer sank auf den Rücken, das Gesicht himmelwärts gerichtet, und röchelte noch eine Weile. Jakob Markowitz blieb an seiner Seite, bemüht, den Satzfetzen etwas zu entnehmen, was er der Familie des Mannes würde wiederholen können: Enten. Prüfung in Bibelkunde. Tamara. Ruth. Brennt. Brennt. Jakob Markowitz prägte sich die Wörter ein, weil er dachte, sie könnten eines Tages vielleicht jemandem Trost spenden. Er traf jedoch niemals die Angehörigen des Befehlshabers und bekam Tamara oder Ruth nie zu Gesicht. Aber die Züge des neuen Anführers sollte er niemals vergessen, sosehr er sich auch bemühte. Der Anführer röchelte weiter, stöhnte unablässig Tamara und Ruth, Ruth und Tamara, und Jakob Markowitz meinte, es würde ihm gleich das Trommelfell zerreißen. Deshalb klammerte er sich wieder an Bellas Namen, umfing ihn unablässig, wie Araber die Perlen ihrer Gebetskette befingern: Bella, Bella, Bella, Bella, ließ den Namen ihm Ohren und Geist erfüllen, mal lauter, mal leiser, je nach den Schreien des Befehlshabers.
Außer dem Anführer kamen in jener Nacht noch weitere einundzwanzig Soldaten ums Leben. Vermutlich hatten auch sie eine Tamara oder Ruth oder Bella, aber Jakob Markowitz hatte keinerlei Absicht, sich damit zu befassen, denn er wusste sehr wohl, dass es ihn um den Verstand bringen würde. Deshalb tat er das Beste, was er tun konnte: Er dachte nicht mehr daran. Gar nicht. Der neue Anführer und der alte Anführer lagen aufeinander in dem Massengrab am Grund seines Gedächtnisses, neben dem Lahmen, dem Trinker, dem Spieler und den weiteren einundzwanzig jungen Menschen, die nicht einmal einen Beinamen bekommen hatten. Jakob Markowitz trat die Erde über ihnen fest und ging weiter, ohne einen Blick zurück. Als er einen guten Monat später den gewundenen Pfad unterhalb der Festung entlangging und die hebräische Fahne darauf wehen sah, überkam ihn eine seltsame Traurigkeit, die ihm in den Augen juckte und seine Schritte beschleunigte.
5
J akob Markowitz
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