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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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steckte ja voll solcher Wunderdinge, sondern wegen der untreuen Rosen. Doch Abraham Mandelbaum kümmerte sich gar nicht um das Weinen des Kindes, leckte ihm auch nicht die Blutstropfen vom Händchen. Er stellte seinen weinenden Sohn auf den Boden und kroch zwischen den Rosen herum, suchte den Liebesbrief an Rachel Mandelbaum und fand ihn nicht, hob hoffnungsvoll den einen oder anderen Stein auf und warf ihn ärgerlich weg. Das Kind weinte immer lauter, aber Abraham Mandelbaum kroch weiter auf allen vieren über die feuchte Erde, die Augen auf die sandigen Schollen gerichtet. Weg. Der Stein war weg. Und da der Stein verschwunden war, hob sich auch der gütige Nebel vor Abraham Mandelbaums Augen wie ein Theatervorhang und entblößte, was er bisher nicht zu sehen gewagt hatte: Rachel Mandelbaum hatte ihn nie gewollt. Hatte ihn nie geliebt. Wenn es einen Grund für ihren Selbstmord gab, dann war kein anderer als er selbst dieser Grund.
    Nun starrte er mit flammenden Augen in die Rosen. Rachel Mandelbaums prächtiger Garten. Die einzige Pracht, die sie sich erlaubt hatte. Die Nachbarinnen tuschelten, sie sei auch an jenem Morgen, als sie sich einen dicken Zopf geflochten und ein dickes Seilende genommen und sich zur Fleischerei aufgemacht hatte, früh aufgestanden, um die Sträucher zu gießen, die Blätter zu streicheln. Hatte sie sich jemals die Mühe gemacht, die Wangen des Kindes so zu streicheln? Hatte sie jemals seine eigenen Wangen gestreichelt?
    Viele Monate waren seit dem Tag vergangen, an dem Abraham Mandelbaum mit eigenen Händen den Johannisbrotbaum aus dem Feld gerissen hatte. Jetzt riss er mit eigenen Händen die Rosen in seinem Hof aus. Damals hatte er das Unrecht an seiner Frau gerächt, die Einsamkeit der allein gebärenden Rachel. Diesmal rächte er Rachel Mandelbaums Unrecht an ihm selbst, rächte die Einsamkeit, die ihn immer mehr überkam, die sein Blut verseuchte und seine Ohren taub für das Weinen des Kindes machte. Die Dornen protestierten, und Abraham Mandelbaums Hände färbten sich blutrot, Rot trat ihm auch auf die Wangen. Der Geruch des Bluts, das ihm aus den Händen rann, mischte sich mit dem Rosenduft, süß und schwer in der Sonnenglut. Die ganze Zeit über weinte Jotam: erst vor Überraschung, dann vor Wut und schließlich in anhaltendem, monotonem Wimmern. Abraham Mandelbaum beachtete es genauso wenig wie zuvor das Blut und die Rosen, er suchte nur immer wieder den Boden ab. Vielleicht würde der Stein jetzt zum Vorschein kommen. Als die Dorfbewohner eintrafen, um die trauernde Familie zu besuchen, fanden sie Abraham Mandelbaum in seinem Hof stehen, die Hände blutverschmiert, und die Rosensträucher wie Leichen auf dem Boden verstreut.

6
    D as Kind nahmen sie mit und brachten es zu Sonia. Außer Rachel Mandelbaum hatte niemand gewusst, dass Seev Feinbergs Traurigkeit stetig wuchs und auch seine lebenssprühende Frau verschlang. Für die Dorfbewohner war Sonia noch die Alte: eine Frau, die einen Mann mit Schimpfen und Schmähen aus dem Meer heimholen kann, die nach Zitrushainen duftet und dreist genug ist, um Pferdediebe mit Wolfsgeheul in die Flucht zu schlagen. So eine Frau, dachten sich die Dorfbewohner, als sie das weinende Kind zu ihr trugen, so eine Frau wird schon etwas mit einem Kind anzufangen wissen, dessen Mutter sich in der Fleischerei erhängt hat und dessen Vater Rosen köpft.
    Das laute Klopfen an der Tür störte die Totenstille, die sich längst über Sonia und Seev Feinbergs Haus gesenkt hatte. So still war das Haus, dass Fliegen es nicht mehr aufsuchten, weil sie sich ihres raumfüllenden Flügelschlags schämten. Sonia öffnete nicht gleich die Tür. Einen langen Augenblick blieb sie auf dem Sofa sitzen, starrte vor sich hin und versuchte, die Geräusche zu enträtseln. Aber dann übertönte Jotams Heulen das Klopfgeräusch. Ein weinendes Kind. Ein weinendes Kind im Hof vor dem Haus. Ihren eigenen Sohn, Jair, hatte sie schon tagelang nicht mehr weinen gehört. Das Schweigen seiner Eltern hatte auch ihn angesteckt, sodass er kaum noch einen Laut von sich gab. Bald erschien Seev Feinberg aus dem Schlafzimmer. In den letzten Wochen schlief er so schlecht, dass er nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterschied, legte sich auf die Matratze, sobald er nur eine Spur willkommener Müdigkeit verspürte. Er schlief für ein paar Minuten ein und erwachte dann wieder, häufig schreiend, manchmal mit zitterndem Leib und schreckgeweiteten Augen. Er war an der Schwelle zwischen

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