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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Mandelbaum betrachtete den Stein und war ganz aufgeregt über die vielen Möglichkeiten auf seiner Handfläche. Dann schloss er die Finger um den Stein und stellte sich Rachels Finger vor, wenn sie den Umschlag öffneten und den Stein darin fänden. Würde sie verstehen, würde sie innehalten, um den violetten Sonnenuntergang zu betrachten, oder würde sie ihn auf den Hof werfen? Aber eigentlich würde der Stein auch, wenn sie ihn auf den Hof warf, seinen Platz finden. Was war angenehmer als dieser Gedanke: Ein Stein, der den ganzen Weg von den Dünen Ägyptens zurückgelegt hatte, lag jetzt an seiner Haustürschwelle. Aber jedes Mal, wenn die Post eingesammelt wurde (die Umschläge türmten sich auf dem Rücksitz des Kombis, verströmten den lieblichen Duft frisch gepflückter Wörter), besann sich Abraham Mandelbaum wieder anders und behielt den Stein in der Tasche. Wie schade, dachte er, dass die Leute gewohnt sind, Briefe zu bekommen, in denen alles gesagt wird. Wie nett wäre es doch, wenn man Briefe bekäme, in denen nichts gesagt wäre, dann könnte man alles daraus erraten.
    Vermutlich wären Abraham Mandelbaum diese Gedanken nicht gekommen, wenn er ein gewisses Schreibtalent besessen hätte. Aber er war kein Mann des gesprochenen oder auch geschriebenen Wortes. Wörter jeglicher Art bereiteten ihm erhebliches Unbehagen. Sie waren ihm zu endgültig, zu scharf, wie ein Rudel geifernder Hunde oder eine Gruppe spöttischer Frauen. Er liebte Rachel wegen ihres häufigen Schweigens, und er liebte die Wüste, weil die Wörter dort sinnlos erschienen. Welchen Sinn sollte es haben, »Heiß heute« zu sagen, wenn die Hitze den Satz, der sie beschreiben wollte, noch beim Aussprechen zerfließen ließ? Die Öde und Weite der Wüste entleerten die Wörter ihres Inhalts. Wenn die anderen Soldaten versuchten, die riesige Weite mit Reden und Witzen zu füllen, einander derbe Zoten und lose Geschichten zuzuschreien, versagte ihnen schnell die Stimme, ohne zu wissen, warum. Abraham Mandelbaum betrachtete die Wadis und die Berge, sah die Felswände und Schluchten und fühlte, wie die gesagten Wörter bald zu Boden fallen würden wie verfaulte Früchte. Von den Wörtern entbunden, frei, nach Herzenslust zu schießen, in den Taschen einen ovalen Stein und die Schere eines Skorpions und einen blühenden Akazienzweig, war Abraham Mandelbaum in der Wüste so glücklich wie nie zuvor im Leben.
    Manchmal, bei Nacht, dachte er an den Jungen. In gut einem Monat wurde er fünf Jahre alt. Würde er seinen Vater wiedererkennen, wenn er zurückkam? Keinen Augenblick fragte sich Abraham Mandelbaum, ob er selbst sein Gesicht wiedererkennen würde. Dabei hatte er sich doch stark verändert.
    Es war Herbst. Der Himmel sah die Erwartung der Menschen und füllte sich mit Wolken. Die Menschen sahen die Wolken am Himmel und füllten sich mit Erwartung. Die Erwartung zog an den Wolken und riss sie ein. Das Wasser tropfte aus den Rissen. Die Menschen guckten in den Himmel und sagten »Regen«. Kaum hatten sie »Regen« gesagt, versiegten die Tropfen, und die Wolken zogen weiter. Nach diesem trügerischen Vorfall war die Hitze noch drückender. Schließlich hörten die Menschen auf, in den Himmel zu schauen, weil sie die Erwartung nicht mehr ertragen konnten. Es war Herbst, und die Erwartung stand in der Luft wie die Augusthitze, wie die Januarkälte. Und wo die Erwartung stand, standen weder Hitze noch Kälte, nur Hoffnungen, die immer Zimmertemperatur haben. Und als die Erwartung und die Hoffnungen anfaulten wie zu lange auf dem Feld belassene Kürbisse, als die Menschen sagten, dieses Jahr würde kein Regen mehr fallen, auch nicht mehr herausfordernd nach oben schauten, als wollten sie sagen: »Na, lasst mal sehen«, als der Himmel überflüssig wurde, schlichtweg überflüssig, da fiel der Regen und tränkte das Land. Nach dem Regen kamen die Blumen, langsam, zögernd, im letzten Frühling waren schon genug unter der Last der Leichen umgeknickt. Und auch diesmal fielen Leichen auf sie nieder, erst mehr, dann weniger, bis der Krieg eines Morgens genauso aufhörte, wie er begonnen hatte. Die Leichen wurden begraben, und die Blumen wurden gepflückt und auf die Leichen gelegt. Da kehrte Abraham Mandelbaum in sein Haus zurück und fand seine Frau erhängt in der Fleischerei.
    Als ihr Mann sie fand, lief Rachel Mandelbaums steifer Leichnam schon langsam blau an. Abraham Mandelbaum stand in der Tür der Fleischerei und starrte auf den kleinen, mageren

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