Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
Vom Netzwerk:
er bei der Heimkehr aus dem Krieg in den Taschen belassen hatte. So glitt seine Hand von dem ovalen Stein zu der Skorpions-Schere und zurück, fuhr immer wieder darüber, als streiche sie über eine Mesusa am Türpfosten. Die Skorpions-Schere glänzte wie Marmor, und der ovale Stein, den ein ausgetrocknetes Meer und längst verwehte Winde poliert hatten, rollte wieder und wieder in den Fingern des Schächters, die ebenfalls etwas von Meer und Wind an sich hatten, da sie tiefe Trauer und große Sehnsucht kannten.
    Während Abraham Mandelbaums Hände hellwach den Stein befühlten, verharrte sein Geist in einer Art Halbschlaf. Seit dem Augenblick, in dem er Rachel in der Fleischerei gefunden hatte, war ein dünner, weißer Nebel über seinen Kopf niedergegangen, der ihm die Augen blendete und die Ohren betäubte. Er wusste nicht, warum sie gerade am Tag der Kampfeinstellung auf den Schemel gestiegen war. Sie hatte ihm nie von dem zerberstenden Schädel erzählt, der sie von Wien in die Moschawa getrieben hatte, und so konnte er nicht ahnen, dass ebendieser Schädel sie auch von der Moschawa zu Schemel und Schlinge getrieben hatte. Andere Gründe kamen Abraham Mandelbaum in den Sinn, düstere und böse Gründe. Noch erkannte er sie nicht recht, weil der segensreiche Nebel in seinem Kopf jede klare Sicht verdeckte. Und doch sah er, durch die weißen Wattewolken, langsam einen Gedanken nahen, einen großen, schwarzen Bären, der zupacken wollte. Manchmal verzog sich der Nebel ein wenig und der Bär kam auf ihn zu. Dann verkrampfte sich Abraham Mandelbaum und dachte im Stillen: meinetwegen. Meinetwegen. Sie hat sich meinetwegen erhängt. Wegen meiner Heimkehr.
    In solchen Momenten zog er sich den weißen Nebel über den Kopf, wie ein Kind aus Angst vor der Nacht unter die Decke schlüpft, und griff nach dem Stein, drückte ihn fest zwischen Daumen und Zeigefinger. Welchen Trost er dem Stein entnahm, wusste Abraham Mandelbaum nicht zu sagen. Aber wenn der schwarze Bär die Zähne fletschte, wenn Abraham Mandelbaum in die Fänge einer neugierigen Nachbarin geriet, wenn er gegen seinen Willen in ein Gespräch mit einem der Bauern verwickelt wurde, wanderten seine Finger flugs in die Hosentasche, und ihm wurde etwas leichter ums Herz.
    Doch eines Morgens war der Stein weg. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und noch kein Dorfbewohner war aufgestanden und herübergekommen, um die große Leere mit einem tröstenden Besuch auszufüllen. Abraham Mandelbaum war im Nachthemd aufgewacht, zog die Hose an und steckte die Hand in die Tasche, aber diesmal fanden seine Finger nicht das Gesuchte. Einen Augenblick erstarrte er, doch sogleich fasste er sich und griff in die zweite Tasche – vielleicht dort, vielleicht hatte er ihn gestern geistesabwesend dahin gesteckt. Doch die zweite Hosentasche war genauso leer wie die erste, und Abraham Mandelbaums Hand fand nichts als Luft zum Greifen. Plötzlich hörte man ein Geräusch im Hof. Abraham Mandelbaum eilte hinaus, nicht mal das Hemd hatte er anziehen können. Als er aus dem Haus stürzte, dessen Fensterläden noch geschlossen waren, blendete ihn die grelle Sonne, und erst nach einer Weile konnte er das murmelnde Kind von dem Rosenstrauch unterscheiden. Jotam war um einen halben Kopf kleiner als die Rosen, die Haare auf seinem Schädel reichten gerade an die untersten Blütenblätter. Obwohl er nun schon recht lange auf der Welt war, betrachtete er die Rosen genauso staunend wie Heuschrecken, Menschen und Wasserkessel. Jotam watschelte zwischen den Zweigen umher, zögernden Schritts, als hätten seine Glieder sich noch nicht ganz entschieden, ob sie gehen oder schweben wollten. Die Arme vom Körper abgespreizt, balancierte er wie ein Seiltänzer über die feuchte Erde. Abrahams Blick fiel auf die geballte, kleine Faust. Was verbarg das Kind dort? Zwischen den Fingern seines Sohnes bemerkte er plötzlich ein vertrautes Rot. Der Stein. Mit einem Schritt legte er die Strecke zurück, für die Jotam mindestens zehn gebraucht hatte. Dann streckte er die Arme aus und hob das überraschte Kind hoch. Jotam fuchtelte abwehrend mit den Armen, und der Rosenstrauch zahlte es ihm heim mit einem Kratzer an der Hand. Abraham Mandelbaums ovaler Stein, die ägyptische Wüstensonne, die er in der Tasche getragen und mit seinen Fingern poliert hatte, fiel zwischen die Rosen.
    In diesem Moment brach das Kind in Tränen aus, nicht wegen des Steins, der es bei Tagesanbruch so fasziniert hatte, denn die Welt

Weitere Kostenlose Bücher