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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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verdrängte seine Vergangenheit in eine Ecke. Seev Feinberg lebte seine Vergangenheit, als wäre sie ewig anhaltende Gegenwart. Rachel Mandelbaum wiederum meinte, ihre Vergangenheit würde sie mit ausgefahrenen Krallen verfolgen, würde sie jeden Moment einholen und in Zukunft umschlagen. Immer wieder erwachte sie im Bett vom Krachen des berstenden Schädels des alten Juden in Wien. Viele Jahre war es her, dass sie den Kopf des Mannes auf den Bordstein hatte schlagen hören, lange Jahre, aber seit Ausbruch des Krieges klang ihr das widerliche Geräusch wieder lebendig und greifbar in den Ohren. So nahe war jetzt das Geräusch, dass es ihr keineswegs mehr der Vergangenheit zu entstammen schien. Rachel Mandelbaum wusste: Der Krieg näherte sich mehr und mehr der Moschawa. Sie wusste es, obwohl die Schlagzeilen der Zeitungen anders lauteten. Sie hörte es: Schädel barsten an allen Enden des Landes, und der Widerhall dieses Krachens verfolgte sie überallhin. Das Geräusch kam derzeit von den Schlachtfeldern im Norden, von den Hinterhalten im Süden, von den Truppen, die aus dem Osten anstürmten und alles niedermachten, was ihnen in die Quere kam. Die jungen Österreicher, die den Alten von einem zum anderen gestoßen hatten, waren nun hinter ihr her, egal, ob sie eine Hakenkreuzbinde am Ärmel trugen oder ob sie Haut und Haar dunkel gefärbt und sich in Araber verwandelt hatten.
    Rachel Mandelbaum goss nach wie vor die Rosen und fütterte das Baby, das zum Kleinkind heranwuchs, aber die ganze Zeit horchte sie auf die anrückenden Stimmen. Manchmal brach sie mitten in einem Schlaflied ab, um besser hören zu können, und manchmal sang sie im Gegenteil so aus voller Brust, dass das Kind sie überrascht anlachte, schmetterte ihr Lied so laut, dass es das Krachen des berstenden Schädels beinah übertönte. Beinah. Sie erzählte niemandem von den Geräuschen in ihrem Kopf. Wem hätte sie es auch erzählen sollen. Abraham Mandelbaum war vor Tagen nach Süden abkommandiert worden, aber auch wenn sie beide zu Hause waren, segelten die Worte, die sie aneinander richteten, über weite Ozeane, ehe sie ihr Ziel erreichten. Jakob Markowitz war nach Norden gegangen, und außer fünf an Bella adressierten Briefen hatte man keine Nachricht von ihm. Und Bella – ihr Gesicht leuchtete, ihre Haut strahlte, und sie selbst war die Freude in Person. Rachel Mandelbaum wagte nicht, Bellas Glück mit ihren Ängsten zu trüben. Eines Tages nahm sie das Kind an der Hand und ging mit ihm zu Sonia und Seev Feinberg. An der Schwelle des Hauses hob sie die Hand, um an die Tür zu klopfen. Dann sah sie durchs Fenster und ließ sie wieder sinken. Im Wohnzimmer saßen Seev Feinberg und Sonia, beide stumm, seine Augen starrten in die Luft, ihre Augen starrten zu Boden, und zwischen ihnen saß der kleine Jair und machte keinen Mucks.
    Nachts, wenn das Heulen der Hyänen in ihren Ohren an- und abschwoll wie eine Sirene, wartete sie auf die Bomben, die aus der Luft fallen würden. Die Stille der Nacht täuschte sie keinen Augenblick. Gegen Morgen, wenn ihr Körper von der angespannten Erwartung schmerzte, griff sie sich zwischen die Beine und suchte Trost. Sie dachte nicht mehr an den österreichischen Soldaten Johann. Ihre morgendlichen Gedanken unterschieden sich nicht im Geringsten von den Phobien des Tages, von den Ängsten der Nacht. Aber wenn sie einige Zeit stur und verzweifelt genug weitermachte, erhielt sie ein paar Minuten des Glücks. Ein zartes Vibrieren, das ihren ganzen Körper durchpulste und – zumindest für einen Augenblick – die Geräusche zum Verstummen brachte.
    Es wäre irrig, anzunehmen, dass Abraham Mandelbaum seiner Frau keine Briefe geschrieben hätte. Zwar wurde keiner je mit der Post abgeschickt, ja nicht einmal zu Papier gebracht, und doch war Abraham Mandelbaum ein ergebener Briefeschreiber. In seinen Taschen hatte er Grußkarten für Rachel, allerlei seltsame Gegenstände, die seine Geschichte erzählten und seine Liebe enthielten. Einen ovalen Stein von roter Farbe. Die Schere eines Skorpions, die im Sand vergraben gewesen war. Einen blühenden, kleinen Akazienzweig. Abends, wenn seine Zeltkameraden über ihren Briefen saßen, holte Abraham Mandelbaum einen dieser Gegenstände hervor und betrachtete ihn lange. Der ovale Stein beispielsweise war gleichzeitig der violette Sonnenuntergang am Himmel der Moschawa, ein pulsierendes, rotes Herz und ein geheimnisvoller Fleck an der Stirn einer jungen Inderin. Abraham

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