Eine Nacht, Markowitz
langgliedrigen Finger, die zuvor so sehr an Rosenblätter erinnerten, dass Schmetterlinge darauf landeten und Bienen sie auf der Suche nach Nektar umsummten, wenn Bella mal auf dem Feld einschlief? Die Hand eines Ungeheuers. Abraham Mandelbaum blickte auf den Gewebebrei, wandte sich ab und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Bella hingegen betrachtete unverwandt ihre Hand, nicht grauenerfüllt, sondern neugierig. Sie dachte: »So bin ich also unter der Haut«, und auch: »Wann wohl der große Schmerz einsetzt?«, und dachte: »Jetzt wird mich kein Mann mehr als ›vollkommen‹ bezeichnen.«
Eine Woche später, als die Brandwunden an ihrer Hand kein gelbes Harz mehr absonderten, schlug Bella Markowitz Rachel Mandelbaums Notizheft auf. Sie las es am Fuß des umgestürzten Johannisbrotbaums, in dessen Schatten ihre Freundin niedergekommen war, am prächtigen Leichnam seines Stamms. Seit Abraham Mandelbaum den Baum mit eigenen Händen ausgerissen hatte, hatte kein Mensch gewagt, ihn aus dem Weg zu räumen, ja nicht mal, seine Überreste zu Feuerholz zu zerhacken. Der entwurzelte Baum lag weiter am Wegesrand, ein stummes Denkmal für Abraham Mandelbaums Kraft und für seine irrsinnige Liebe zu seiner Frau. Musste einer der Dorfbewohner an dem Baum vorbei, beschleunigte er seine Schritte, und erst, wenn er sicher war, außer Reichweite seiner Äste zu sein, murmelte er: »Meschuggener!«, und setzte seinen Weg fort. Doch Bella suchte die Nähe des Baums, wie jemand gern an die Stelle zurückkehrt, an der er einen geliebten verloren gegangenen Gegenstand zuletzt gesehen hat. Und hier hatte sie Rachel Mandelbaum zum letzten Mal gesehen, bevor sie ein blasser Schatten ihrer selbst geworden war. Deshalb setzte sich Bella auf den Boden, lehnte den Rücken an den umgestürzten Stamm, setzte Zwi neben sich und gab ihm zwei Johannisbrote als Rasseln zum Spielen. Dann nahm sie das Notizheft zur Hand. Sie strich mit der gesunden Hand über den Ledereinband und erschauerte, weil sie sich an den sengenden Einband an ihrem Fleisch erinnerte.
Was würde sie dort finden, jenseits des Einbands, der sich im Feuer verformt hatte? Wenn sie – Bella, Rachel und Sonia – sich früher unterhielten, hatte Rachel nie ein Tagebuch erwähnt. Allein der Gedanke, dass sie ein Tagebuch führen könnte, widersprach Rachel Mandelbaums ganzer Existenz, die so flüchtig war, auf so unsicheren Grund gebaut, wie Löwenzahn, der sich zu Sommeranfang in weiße Pusteblumen verwandelt – ein Atemhauch, und schon zerstäuben die Samen in alle Himmelsrichtungen. Die Worte in einem Tagebuch dagegen sind schwer, bleiben an Ort und Stelle, auch lange Jahre, nachdem das ganze Feld samt all seinen Blumen umgepflügt und gedüngt und verlassen und umgewidmet und mit vielen Häusern bebaut worden ist. Wie sollte Rachel Mandelbaum dann also ein Tagebuch geführt haben?
Sie hatte kein Tagebuch geführt. Als Bella sich endlich traute, den Lederdeckel aufzuschlagen (ihre gesunde Hand zitterte, die verbrannte stach plötzlich), boten sich ihren Augen kurze, wohlgeordnete Zeilen, auf Deutsch. Rachel Mandelbaums Gedichte. Drei Mal musste Bella sich die Augen wischen, ehe sie das Geschriebene lesen konnte. Diese Frau, die sich seit ihrer Ankunft hier geschworen hatte, Hebräisch und nur Hebräisch zu sprechen, die Bella bereitwillig geholfen hatte, die neue, wilde Sprache zu bändigen, damit sie sie benutzen konnte, die Frau, die sich sogar beim Lachen – so selten es vorkam – den gutturalen Klang des Hebräischen statt des satten deutschen antrainiert hatte, diese Frau hatte auf Deutsch geschrieben. Gedichte. Rachel Mandelbaums Handschrift auf dem Blatt war fahrig, eckig, als flüchteten die Wörter vom linken Seitenrand zum rechten, hetzten zur Ziellinie, ehe ihre erbitterten Verfolger sie einholten: Die hebräische Sprache, die als rechtmäßige Gemahlin keine Nebenfrauen duldet. Die Epoche, die vor lauter Kämpfen und Aufrufen, zu vertilgendem Lausbefall im Zitrushain und aufzuhängender Wäsche keine schlichten Gedichte erlaubt. Die Vergangenheit, der wütende Stier, dem jedes deutsche Wort ein rotes Tuch ist, das er sofort mit den Hörnern der Sehnsucht aufspießt.
Schließlich versiegten Bella Markowitz’ Tränen, und sie wandte sich endlich den Gedichten selbst zu. Doch wenig später rannen die Tränen schon wieder. Denn Rachel Mandelbaums Verse waren schöner als alle, die sie je gelesen hatte. Die Worte des Tel Aviver Dichters wirkten daneben wie dunkle
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