Eine Nacht, Markowitz
Taubenkleckse auf weißem Papier. Gleich den Alchemisten, die mit ihren Zauberkünsten unedle Metalle in Gold zu verwandeln wussten, hatte sie, Rachel Mandelbaum, die Fähigkeit besessen, ihren Tagesablauf durch ihre Worte in reine, goldene Tränen zu destillieren. So saß Bella denn den ganzen Tag und las Rachel Mandelbaums Gedichte, die gesunde Hand hielt das Notizheft, die versengte ruhte auf dem Baumstamm. Am Ende des Bandes wusste sie, dass sie ihn übersetzen würde. Der Gedanke kam ihr so ruhig, so klar, als sei ihre ganze bisherige Reise nur dazu bestimmt gewesen, dass sie am Johannisbrotbaum beschloss, Rachel Mandelbaums Gedichte ins Hebräische zu übertragen. Bella hob die versengte Hand vom Stamm und strich damit über den Einband des Heftes. Bei der Berührung mit dem Deckel rann die gelbe Flüssigkeit erneut aus den Wunden. Ich würde es wieder tun, flüsterte sie vor sich hin, alles, ich würde es wieder tun. Denn all das hatte ja ganz gewiss nur dazu dienen sollen, Rachel Mandelbaums Gedichte vor dem Untergang zu retten, kleine Diamanten auf Deutsch tief in einem dunklen Schacht, in dem man sich mit schwindelndem Kopf und müden Beinen zurechtfinden musste.
Zwi ließ die Johannisbrote fallen und betrachtete seine Mutter staunend. Lange hatte sie ihm nicht mehr die Augen zugewandt, und das Fehlen ihres zärtlichen Blicks fühlte sich für ihn wie Hunger an. Er stieß ein kurzes, sondierendes Wimmern aus, an dessen Ende ein Fragezeichen stand – bist du da? Bella schlug hastig das Heft zu. Sie war da. Sicher war sie da. Rachel Mandelbaums Worte hatten so lange gewartet, da sollten sie sich halt noch ein bisschen länger in Geduld fassen. Als Zwi die Augen seiner Mutter wieder auf sich spürte, packte er erneut die Johannisbrote, um sie zu rasseln und aneinanderzuschlagen und der Welt mit Freudenschall zu verkünden, dass alles in bester Ordnung war.
8
N och ehe der Irgun-Vizechef das dreißigste Lebensjahr erreichte, wurden drei Babys nach ihm benannt. Efraim Jamini kam am 13 . Juni 1948 im Kibbuz Nitzanim zur Welt. Seine Mutter hatte ihn zwischen den Wehen, als ihre Schmerzensschreie im Geschützdonner untergingen, Jischmael nennen wollen. Doch als er drei Tage alt war, kam der Befehl, die Kinder zu evakuieren. Die Ägypter waren im Anmarsch. Die erschöpfte Mutter brach in Tränen aus und weigerte sich, aufzustehen. Mitgehen konnte sie noch nicht, und wie sollte das Kind wohl ohne sie auskommen? An jenem Abend gaben die Kibbuz-Mitglieder ein Schlafmittel in die Milchfläschchen der Kinder. Im Kinderhaus war es brechend voll, denn alle Eltern wollten noch einmal die Hand ihres Kindes halten, es ein letztes Mal friedlich schlafen sehen, ehe sie sich auf ungewisse Zeit von ihm trennten. Aber die Kinder schliefen, trotz Schlafmittel, später ein als sonst. Wie sollten sie auch einschlafen, wenn die Eltern bei ihnen waren, die an normalen Tagen nachts nicht im Kinderhaus blieben und schweren Herzens, aber innerlich überzeugt wieder auf ihre Zimmer gingen, selbst den verzweifeltsten Bitten nicht stattgaben, die mit erstickter Stimme und feuchten Augen vorgebracht wurden: Mama, lass mich bei euch schlafen. Die Kinder sahen verwundert ihre Eltern an und die Eltern sehnlich ihre Kinder, bis die Wirkung der Droge über das Staunen der Seele siegte und allen Kindern die Lider zufielen. Nun hoben die Eltern ihre Sprösslinge (so klein, so leicht) aus den Betten und traten mit ihnen in die Nachtluft hinaus.
Fast zwei Stunden gingen sie, bis sie die Kämpfer trafen, die sich durch die ägyptische Belagerung zu ihnen durchgeschlichen hatten. Ein letzter Kuss, eine letzte Umarmung, schschsch! Bloß nicht wecken! Die Eltern übergaben ihre schlafenden Kinder an die Soldaten, sahen sie in den jungen, muskulösen Armen und fragten sich, ob es ihnen nach diesem Krieg wohl vergönnt sein würde, das Gewicht ihrer Kinder erneut zu tragen. Und die Soldaten spürten das Gewicht der Kinder auf den Armen und fragten sich, ob es ihnen wohl vergönnt sein würde, nach dem Krieg einmal eigene Kinder so zu halten. Nur der Irgun-Vizechef fragte sich, warum er hier lediglich zweiundzwanzig Babys sah, wo es doch dreiundzwanzig hätten sein sollen. Als man ihm sagte, das fehlende Kind sei zu klein, um seine Mutter zu verlassen, und die Mutter zu schwach zum Gehen, sagte er: »Dann hole ich sie beide«, und rannte Richtung Kibbuz. Drei Stunden später kehrte er zurück, die Mutter huckepack, und mit ihr das Kind, das Jischmael
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