Eine Nacht, Markowitz
Ron spürte am eigenen Leib die Beklemmung des Hauses, aber deren Ursache überstieg seinen Verstand. Gerade weil sich nichts verändert hatte, gerade weil der Schildkrötenpanzer nach wie vor auf dem Tisch lag und das trockene Blatt auf dem Regal zerfiel, gerade weil das Hufeisen an Ort und Stelle hing, gerade deswegen war das Haus ein mumifizierter Leichnam. Bis zu dem Tag, an dem Sonia Seev Feinberg mit seinen säuregetränkten Augen den Weg herabkommen gesehen hatte, hatte sie sich ständig verändert, und das Haus hatte es ihr gleichgetan. Mal beschloss sie morgens nach dem Aufstehen, den Schildkrötenpanzer in den Baum auf dem Hof zu legen, vielleicht würde ein Vogel kommen und darin nisten. Mal nahm sie das Hufeisen von der Wand und nahm es mit in Jairs Zimmer, um ihn mit nachgeahmtem Pferdegetrappel zu vergnügen. Und an manchen Tagen warf sie alles weg – alle Ziergegenstände, die im Haus waren –, hob Jair hoch und sagte: »Komm, wir suchen uns was Neues.« Aber seit dem Tag, an dem Seev Feinberg, schuldbeladen wegen des toten Kindes, heimgekehrt war, ging Sonia nicht mehr aus, um alltägliche Schätze zu suchen, und die Schätze im Haus wurden wieder das, was sie letzten Endes waren – gewöhnliche und unscheinbare Gegenstände.
Jeschajahu Ron erfasste das nicht. Seev Feinberg und Sonia spürten es nur vage. Doch Jotam Mandelbaum störte die Beklemmung im Haus nicht im Geringsten, denn er weinte ohnehin schon seit über zwei Stunden. Seine Kehle war ausgedörrt, und tief in seinem Herzen erwachte die dumpfe Angst, er würde ewig so weitermachen, würde weinen und weinen und weinen, denn ehrlich gesagt hatte er schon vergessen, wie man damit aufhörte. Er erinnerte sich nicht mehr an die Rosen, das rote Wunder, dessentwegen er am Morgen auf den Hof gelaufen war, auch nicht an deren dornige Untreue und den Kratzer, den sie seiner Hand verpasst hatten. Jetzt weinte er, weil Michael Nudelmann ihn von sich gestreckt hielt, und wegen seines Vaters, der nicht da war, und wegen seiner Mutter, die in anderer Hinsicht nicht da war, was er zwar merkte, sich aber noch nicht erklären konnte. Doch dann entdeckten seine Augen, durch die Tränen, etwas Neues, Wunderbares: Seev Feinbergs Schnauzer. Als Seev Feinberg herantrat, um sich das Kind anzusehen, stand sein prachtvoller Schnauzer genau über Jotams Gesicht. Und obwohl der Schnauzer recht mitgenommen, ja abgeschlafft aussah, erreichte er doch, was alle anderen nicht geschafft hatten – Jotam Mandelbaums Weinen abzustellen. Das Kind ließ das Weinen sausen, wie es ein eisern festgehaltenes Spielzeug losließ, sobald es ein anderes entdeckte. Das Gewirr schwarzer Haare, das sich über ihm kringelte, war interessant und einladend. Sogleich griff das Kind nach Seev Feinbergs Schnauzer und zerrte fest daran.
»Auuu!«, schrie Seev Feinberg. In diesem Moment, kraft dieses einen Wortes, war der düstere Bann im Haus gebrochen. Denn Sonia bekam einen Lachanfall, es ließ sich einfach nicht vermeiden. Seev Feinbergs verwirrter Blick, als das Kind ihm die Pracht seiner Männlichkeit raufte, zwang sie, sich auf den Boden zu setzen, wo sie lachte und lachte und lachte. Seev Feinberg sah sie an und lachte mit. Und Jotam, der diesen süßen Klang seit Langem nicht mehr gehört hatte, sich schon fragte, ob die Erwachsenen überhaupt fähig waren, ihn zu erzeugen, zog wieder am Schnauzer und platzte schier vor Wonne. Sonia warf einen Blick auf ihren Mann und wusste, dass sie gerettet waren. Das Blau seiner Augen war zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr trübe, wie ein Fenster, das nach Monaten erstmals wieder geputzt wurde.
7
V olle zwei Wochen waren seit Ende des Krieges ver- gangen, und noch war Jakob Markowitz nicht heimgekehrt. Auch Briefe schrieb er nicht. Wenn Bella aufs Feld ging, konnte sie nicht umhin, zum Weg hinüberzuschauen, ob sie ihn wohl nahen sähe. Je mehr Tage vergingen, desto häufiger sah sie hin. Jeden Augenblick konnte er zurückkehren. Jeden Augenblick konnte sie seine gebeugte, schlaffe Gestalt den geschlungenen Weg von der Anhöhe herunterkommen sehen. Zuweilen spielten die Augen ihr einen Streich: Der langsame Trott des alten Postboten erschien ihr eines Morgens wie Markowitz’ Gang und schickte sie im Laufschritt ins Haus. Drinnen lief sie verwirrt hin und her. Dann setzte sie sich aufs Bett, schöpfte wieder Atem, das Herz pochte ihr bis zum Hals. Was sollte sie ihm sagen? Was nur? Eine lange Weile ließ sie sich eine ganze Reihe von
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