Eine Nacht, Markowitz
auf ihr Gesicht, denn sobald sie einen Grund für den Niedergang ihres Mitmenschen gefunden hatten, fühlten sie sich selbst gefeit. Schließlich herrscht Ordnung auf der Welt, und kein Mensch fällt in eine Grube, es sei denn, er hätte sie zuvor selbst ausgehoben.
Deshalb verschanzten sich die Dorfbewohner in ihren Häusern, zogen die Gardinen vor, um Abraham Mandelbaums Haus nicht mehr zu sehen. Und deshalb rochen sie nicht, konnten sie nicht riechen, dass Rauchgeruch von seinem Hof aufstieg. Bella Markowitz roch ihn jedoch durchaus und lief dem Rauch nach in den Hinterhof. Dort fand sie Abraham Mandelbaum damit beschäftigt, Rachel Mandelbaums ganzen Besitz zu verbrennen, fünf Kleider und zwei Nachthemden und viele Vorhänge, die sie sich aus ihrer Vergangenheit genäht hatte, aus der von dort mitgebrachten Garderobe.
»Was tust du denn?«, rief Bella Markowitz. Abraham Mandelbaum beachtete sie nicht. Er war ganz darin vertieft, ein Nachthemd seiner Frau zu zerreißen. Er hatte Widerstand des Stoffes in seinen Händen erwartet, einen Aufschrei der reißenden Baumwolle. Aber Rachels Hemd tat es seiner einstigen Trägerin gleich und gab sein Dasein auf, sobald der Druck zu groß wurde. Mühelos ließ sich das Hemd von Abraham Mandelbaums Händen zerreißen. Wütend über die schnelle Kapitulation schleuderte er die Fetzen ins Feuer.
»Meinetwegen. Sie hat sich meinetwegen aufgehängt. Weil sie nicht wollte, dass ich heimkomme.«
Abraham Mandelbaum lallte die Worte, und Bella hörte sie kaum. Trotzdem verstand sie. Sie legte Abraham Mandelbaum die Hand auf die Schulter. Sie tat es zögernd, denn er war ein großer Mann, und sein Zorn war noch größer. Doch als Abraham Mandelbaum Bella Markowitz’ Hand auf seiner Schulter spürte, beruhigte er sich mit einem Schlag. Manchmal braucht ein gebrochener Mensch nichts weiter als die Hand eines anderen Menschen auf seiner Schulter.
Als Abraham Mandelbaum sich an Bella Markowitz’ Hand schmiegte, entdeckte sie etwas Alarmierendes: Tief im Feuer, in den Flammen, lag ein Notizheft. Klein war es, mit hartem Ledereinband, der es einige Sekunden vor den Flammen schützte. Der Einband begann schon, den Feuerzungen nachzugeben, gleich würden die Seiten samt den Wörtern darauf zu Asche verfallen. »Du Schuft!«, rief Bella. Abraham Mandelbaum sah sie überrascht an. Vor einer Sekunde hatte ein Engel ihm seine rettende Hand auf die Schulter gelegt, und nun schlug ihn ein Satansweib, deren Haar im Feuerschein funkelte und deren Augen loderten.
»Ihr Tagebuch verbrennen? Ihre Worte? Sie hat doch kaum geredet, diese Frau, war so sanft, so verschlossen, und du verbrennst die einzigen Worte, die sie uns hinterlassen hat?!«
»Aber ich – «
Sie ließ ihn nicht ausreden. Ein Mann, der die Worte seiner toten Frau dem Feuer anheimgab, durfte nicht reden. Bella trat ans Feuer. Sie wandte das Gesicht von den Flammen zu Abraham Mandelbaum, von Abraham Mandelbaum zu den Flammen. Das Mitgefühl, das sie für den trauernden Schächter empfunden hatte, sprang um in glühenden Zorn auf diesen Mann, der jede Erinnerung an die einst geliebte Frau verbrennen wollte, damit ja nichts von der übrig blieb, die ihn nicht gewollt hatte.
Ehe Bella noch wusste, was sie tat, griff sie ins Feuer und zog das Notizheft heraus. Der angesengte Ledereinband klebte ihr an der Hand, versetzte ihr eine tiefe, schillernde Brandwunde. Aber Bella ließ das Heft nicht los, bis sie es aus der Gefahr gerettet hatte, ließ es erst dann zu Boden fallen und umfasste mit der gesunden Hand die verbrannte, wobei ein lauter Schmerzensschrei sich ihrer Kehle entrang. Abraham Mandelbaum packte Bella hastig, bevor sie ihm noch umkippte. Doch sie fiel nicht um. Noch nie war sie so standfest gewesen. Sie stand, wie sie noch nie gestanden hatte, beide Beine wie zwei stählerne Pfeiler fest auf der Erde. Bella Markowitz betrachtete ihre Hand, die jetzt keiner Menschenhand mehr glich. Die fünf Finger waren zwar noch alle vorhanden, aber die weiche, zarte Haut hatte sich gänzlich vom Körper gelöst und klebte am Einband des Notizhefts, das am Boden lag. Derart gehäutet, wirkte Bella Markowitz’ Hand entblößt. Rot und Violett und Gelb mischten sich darauf, und sie roch ekelhaft süßlich nach verbranntem Fleisch. Die Hand eines Ungeheuers. Die Hand eines Feuerdrachens. Wie konnte man in ihr jene edle, feine Hand wiedererkennen, die Klaviertasten bloß zu berühren brauchte, um sie zum Klingen zu bringen? Die
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