Eine Nacht zum Sterben
stellen, war er gerade dabei, das Mädchen zu vergewaltigen. Damit nicht genug; er hatte ihr auch noch vierhundert Pfund abgenommen. Ich weiß nicht, wie gut er sonst für Sie arbeitet; aber ein Blick auf sein Bankkonto wäre vielleicht nicht uninteressant.«
Rossiter schien gar nicht zuzuhören. Er hatte die Stirn gerunzelt und sah zu Famia Nadeem. Als er auf sie zuging, senkte sie den Kopf. Er legte seine Hand unter ihr Kinn, und sie mußte ihn ansehen. »Stimmt das, was er sagt?«
Es war seltsam, aber sie schien nun alle Furcht verloren zu haben. Sie war ganz ruhig, sah ihn fest an und nickte.
Rossiter wandte sich von ihr ab und ging wieder zu Chavasse. Er machte ein betrübtes Gesicht, seine Augen sahen traurig aus.
»Was ist das für eine Welt«, sagte er leise. »Was ist das für eine schmutzige und gemeine Welt.« Er atmete tief ein, riß sich zusammen, und dann war er wieder er selbst. »Aufstehen!«
Chavasse stand auf, und im selben Augenblick hatte er die Smith & Wesson in der Hand. Jacaud stieß einen Schrei aus, aber Rossiter winkte ab. Er stand mit leicht gespreizten Beinen da, warf die elfenbeinerne Madonna hoch in die Luft und fing sie mit der rechten Hand wieder auf.
»Und was nun?«
»Nichts«, sagte Chavasse. »Ich will nur eins: bei lebendigem Leibe nach London kommen und dann in der Versenkung verschwinden.«
»Das ist verständlich.« Rossiter lächelte.
»Zehn Jahre in einem australischen Gefängnis wären auch keine sehr reizvolle Aussicht. Ich nehme an, daß sie dort im Strafvollzug immer noch die mittelalterlichen Methoden anwenden.«
Chavasse setzte ein erstauntes Gesicht auf. »Gibt es etwas, das Sie nicht wissen, mein Freund?«
»Über unsere Kunden wissen wir alles.«
Chavasse seufzte und steckte die Smith & Wesson wieder ein. »Ich habe in den letzten Monaten einen Haufen Schwierigkeiten gehabt, Rossiter. Jetzt habe ich die Nase voll. Bringen Sie mich nach England, das ist alles, was ich verlange. Ich zahle, was Sie verlangen. Für die Geschichte in Marseille war allein Skiros verantwortlich, glauben Sie mir.«
Rossiter steckte die Madonna in seine rechte Tasche.
»Und wo ist das Geld?«
Chavasse erzählte ihm alles. Er zog auch seinen rechten Schuh aus und gab ihm den Schlüssel zum Schließfach.
Rossiter gab ihn sofort an Jacaud weiter. »Wir warten hier auf dich. Du kannst den Renault nehmen.«
Jacaud entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen, und Chavasse steckte sich eine Zigarette an. So weit, so gut. Er schaute durch die Kiefern auf das Meer und lächelte.
»Ein schönes Land. Ich habe mich die ganze Zeit gefreut, mal wieder hier zu sein. Mein Vater hat in der Bretagne gelebt.«
»Ich wunderte mich schon«, sagte Rossiter. »Sie sprechen ein fabelhaftes Französisch.«
»Meine Mutter war natürlich Engländerin, aber wir haben zu Hause immer französisch gesprochen, soweit ich mich erinnern kann. Mein alter Herr hat es so gewollt.«
Rossiter nickte; er nahm ein schmales Lederetui aus der Westentasche und zündete sich einen dünnen schwarzen Stumpen an.
»Erzählen Sie mir etwas von dem Mädchen.«
Sie saß jetzt wieder auf dem Beifahrersitz und sah ihnen zu. Chavasse lächelte zu ihr hinüber. »Ich weiß auch nur, was sie mir erzählt hat.«
Er berichtete knapp, was er erfahren hatte, und als er zu Ende war, nickte Rossiter nachdenklich. »Für ihr Alter hat sie schon viel durchmachen müssen.«
Seine Stimme klang, als ob er das wirklich meinte. Ihr Schicksal schien ihn zu rühren. Er ging zu ihr hinüber. Chavasse setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes und beobachtete sie. Rossiter sprach mit ihr. Plötzlich lächelte sie, und dann lachte sie laut auf. Und Rossiter lachte mit, das war merkwürdig; er schien jetzt ein ganz anderer Mensch zu sein. Seltsame Leute.
Chavasse stand auf und ging auf eine Lichtung zu. Er atmete den scharfen Geruch der Kiefern ein und die salzige Seeluft; ein Duft, der in ihm jedesmal, wo er auch war, Erinnerungen an seine Kindheit in der Bretagne zurückrief. Es wäre schön gewesen, wenn er jetzt seinem Großvater in Vaux einen überraschenden Besuch hätte abstatten können. Das wäre so recht nach dem Geschmack des alten Herrn gewesen – ein Besuch von seinem cleveren halbenglischen Enkel, der an einer Universität lehrte, deren Namen er noch nie hatte behalten können. Vielleicht ein bißchen zu gelehrt, dieser Enkel mit seiner Promotion über moderne Fremdsprachen; aber immerhin war er auch ein
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