Eine Nacht zum Sterben
Mädchen hatte die ganze Nacht friedlich geschlafen, und Chavasse weckte sie kurz vor der Ankunft. Sie verschwand draußen im Gang. Als sie wiederkam, waren ihre Haare gekämmt.
»Ist da heißes Wasser?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag morgens kaltes Wasser lieber. Es erfrischt so schön.«
Chavasse fuhr sich über sein unrasiertes Kinn und meinte: »Ich will mir nicht bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Rasieren muß ich mich wohl später.«
Fünf Minuten später fuhr der Zug in den Bahnhof von St. Brieuc ein. Sie waren die einzigen, die ausstiegen. Es war kalt und ungemütlich; eine Atmosphäre, wie sie auf jedem Bahnhof der Welt zu solch früher Stunde herrscht.
Es war, als ob gerade alle Leute abgefahren wären.
Der Beamte an der Sperre trug einen dicken Mantel und einen Wollschal, um sich gegen die frostige Morgenluft zu schützen. Er sah pensionsreif aus. Er sah aus wie ein Mann, dem alles gleichgültig geworden ist, sogar das Leben selbst. Er schien krank zu sein, seine Haut sah schlecht aus, und er mußte ständig husten. Auf Chavasses Frage antwortete er höflich, aber frostig, so als ob er mit den Gedanken ganz woanders wäre.
St. Denise? Ja, es gäbe da einen Bus nach Dinard, der würde bis eine Meile vor St. Denise fahren. Der Bus ginge um neun Uhr vom Marktplatz. Da sei auch ein Café, das sehr früh geöffnet habe wegen der Marktleute. Monsieur Pinaud sei ein Wirt, der sich das frühe Geschäft nicht entgehen ließe. Das war alles, was der Mann zu sagen wußte. Er schwieg, tauchte wieder in seine eigene, freudlose Welt ein, und sie gingen los.
Es fing an zu regnen, als sie den Marktplatz erreicht hatten, und sie gingen über ein paar Stufen durch die Tür des Cafés, dessen Fenster erleuchtet waren. Drinnen war es warm. Sie waren die ersten Gäste. Chavasse führte das Mädchen an einen Tisch neben dem Fenster und ging an die Theke aus Zink. Dahinter saß ein kahlköpfiger Mann in mittleren Jahren; er trug ein gestreiftes Hemd und eine weiße Kittelschürze und las Zeitung. Offenbar Monsieur Pinaud, von dem der Bahnbeamte gesprochen hatte. Er legte die Zeitung zur Seite und lächelte. »Sie sind mit dem Zug gekommen?«
»Das sind wir.« Chavasse bestellte Kaffee und Brötchen. »Ich habe gehört, daß um neun Uhr ein Bus nach Dinard geht. Ist das wirklich der erste?«
Pinaud nickte und goß den Kaffee ein. »Wollen Sie nach Dinard fahren?«
»Nein, nach St. Denise.«
Der Mann setzte die Kaffeekanne ab; sein Gesicht hatte einen wachsamen Ausdruck. »St. Denise? Sie wollen nach St. Denise fahren?«
Seine Reaktion war mehr als interessant, und Chavasse lächelte freundlich. »Ja. Meine Freundin und ich wollen dort ein paar Tage Urlaub machen. Wir werden in der Pension Zum Freibeuter wohnen bei einem Monsieur Jacaud. Kennen Sie ihn?«
»Kann schon sein, Monsieur. Wissen Sie, es kommen hier viele Leute vorbei.« Er schob den Kaffee und die Brötchen herüber.
»Fünfunddreißig Francs bitte.«
Chavasse nahm die beiden Tassen und die Brötchen und ging damit zu ihrem Tisch. Als er sich hingesetzt hatte, polierte Pinaud eine Weile seine Theke; dann verschwand er durch eine Tür, die wohl in die hinteren Räume führte.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Chavasse und ging ihm nach. Er kam in einen leeren, mit Fliesen belegten Flur. Ein Schild am anderen Ende wies zur Toilette. Von Pinaud war nichts zu sehen. Chavasse schlich vorsichtig weiter und blieb stehen. Auf der rechten Seite war eine Tür nur angelehnt, und er hörte Pinaud telefonieren. Seltsamerweise sprach er bretonisch, was auch Chavasse beherrschte wie ein Einheimischer, denn sein Großvater väterlicherseits führte trotz seiner achtzig Jahre in der Gegend von Vaux noch den Bauernhof der Familie.
»Hallo, Jacaud. Dein Frachtgut ist gerade angekommen wie erwartet. Auf das Mädchen paßt die Beschreibung hundertprozentig, aber der Mann gefällt mir gar nicht. Spricht Französisch wie ein Franzose oder wie einer, der’s in der Schule gelernt hat, wenn du weißt, was ich meine. Ja – geht in Ordnung. Sie warten auf den Bus um neun.«
Chavasse stand schon wieder im Café. Famia war inzwischen bei ihrem zweiten Brötchen. »Ihr Kaffee wird kalt, wenn Sie sich nicht beeilen.«
»Macht nichts. Ich gehe noch mal eben zur Haltestelle; ich will sehen, wann der Bus abfährt. Bin gleich wieder da.«
Er ging aus dem Café, ohne eine Antwort abzuwarten, und lief zu dem kleinen Bahnhof. Dort war immer noch keine
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