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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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abzulenken. An jeder Ecke machte sie sich darauf gefasst, mit Simon zusammenzustoßen. Aber die Flure waren leer, genauso wie die Bibliothek. Dort, im trüben Licht des wolkenverhangenen Himmels, das durch die Oberlichter drang, roch die Luft nach Papier und altem Leder. Sie schritt die Regale entlang durch eine Stille, die mit jedem Schritt undurchdringlicher zu werden schien. Plötzlich war sie seltsam befangen angesichts der in den zahlreichen Bänden gesammelten Worte, der unruhigen Gedanken lange verstorbener Männer, die alle schweigend um ihre Aufmerksamkeit buhlten.
    »Eines davon wird es schon tun.«
    Erschrocken schnappte Nell nach Luft und drehte sich um. Simon saß in einem Ohrensessel am anderen Ende des Raums, seine weiße Krawatte fing alles Licht im Raum und schnitt eine präzise, gespenstische Form in den Schatten.
    Ihr Mund war trocken. Sie zwang sich, auf seine Bemerkung zu antworten. »Störe ich dich?«
    Er legte ein Lesezeichen in das Buch auf seinem Schoß und nahm das Glas vom Tisch neben ihm. Etwas an seiner Bewegung – eine kalte, geruhsame Effizienz – brachte ihr Herz zum Pochen. »Meine Frau fragt, ob sie mich stört«, murmelte er. »Wirklich bemerkenswert.«
    »Ja?« Wenn er so kühl zu ihr war, kam es ihr vor, als redete sie mit einem Fremden – einem aalglatten, gut aussehenden Fremden, der keine Verwendung für sie hatte. »Ich dachte, es wäre höflich.«
    »Oh, das ist es. Sehr korrekt, kann ich dir versichern. Wir Ehemänner und -frauen der Aristokratie müssen peinlich genau darauf achten, nicht unmanierlich mit unseren Angetrauten zu reden.«
    Etwas Düsteres klang in seiner Stimme mit – scharf und leise und schneidender als einfache Ironie. Nell beschloss kurzerhand, später wiederzukommen, wenn er weg wäre.
    Aber als sie sich umdrehte, fiel ihr ein Buch auf dem langen Lesetisch auf. Es war sehr alt, das sah sie auf den ersten Blick. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über den Umschlag und fühlte das weiche und abgegriffene Leder. Sie wusste, dass es zwei Kategorien von alten Dingen gab. Für die Armen bedeutete alt, dass etwas abgetragen und nutzlos war. Für die Reichen war eine Sache je wertvoller, je älter sie wurde, denn wenn jemand genügend Geld hatte, um sich etwas Neues zu kaufen, musste es einen guten Grund geben, das Alte zu behalten. Diese Logik hatte sie aus der schlichten Tatsache gelernt, dass so viele Teppiche im Haus vollkommen abgewetzt waren. »Aus dem siebzehnten Jahrhundert«, hatte Polly ihr über einen verraten – auch wenn ein vernünftiger Mensch das für einen guten Grund halten mochte, endlich einen neuen anzuschaffen.
    Dieses Buch gehörte jedenfalls in die Kategorie der alten Dinge der Reichen. Aber als sie es aufschlug, stellte sie fest, dass es nicht mit einem fadenscheinigen Teppich zu vergleichen war.
    Es war wundervoll. Illustrationen der Martyrien der Heiligen in lebendigen, schrecklichen Farben. Simon sprach, als sie umblätterte.
    »Es gehörte deiner Mutter.«
    Sie richtete sich auf. »Ich dachte, die wurden alle verkauft?«
    Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck.
    »Du hast es zurückgekauft?«, fragte sie.
    »Ja.«
    Schweigend nahm sie das in sich auf, während sie die nächste Seite aufschlug. »Auch noch andere?«
    »Alle, die ich finden kann.«
    Ihre Hand erstarrte in der Bewegung. Bei seinem Eingeständnis spürte sie einen Stich, einen Stich, der sich zu einem Schmerz ausweitete und ihren ganzen Körper wie eine offene Wunde pochen ließ.
    Er hatte ihr genug von seiner eigenen Geschichte erzählt, dass sie wusste, wie wichtig die Freundlichkeit der Countess für ihn gewesen war. Selten und kostbar. Jetzt gab er das zurück, indem er die Bücher ihrer Mutter aus den Händen von Fremden zurückkaufte.
    Etwas entwirrte sich in ihr bei diesem Gedanken. Simon wusste, wie es war, verletzt zu werden, genau wie sie selbst. Seine Familie hatte ihn einfach einem gefühllosen Fremden übergeben. Ihre Familie hatte sie verloren, aber als Nell sie wiedergefunden hatte, wollte sie nichts von ihr wissen. Beide hatten etwas verloren, das ein Mensch nicht verlieren sollte. Beide waren davon gezeichnet.
    »Nimm es mit, wenn du möchtest«, sagte er.
    Sie presste das Buch an ihre Brust und verließ rasch das Zimmer, lief durch die Eingangshalle und die Treppen hinauf. Als sie endlich in ihren Räumen angekommen war, warf sie sich in einen Sessel und starrte das Buch an.
    Simon hatte es aufgespürt, weil es ihrer Mutter gehört

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