Eine naechtliche Begegnung
beistehen. Er liebte sie wirklich. Wenn sie ihm aufmerksam zugehört hatte, müsste sie das wissen. Er hing viel zu sehr an seinem Wohlstand, um ihn für etwas Geringeres aufzugeben.
Sein unfrohes Lächeln erlosch, als Simon die Augen schloss. Er war nicht wie der alte Rushden. Niemals würde er seine Macht missbrauchen, um jemandes Willen zu brechen.
Aber Nell war seine Frau. Ob sie glaubte oder nicht, dass er mit ihr zusammenbleiben wollte, hatte keine Bedeutung. Er
wollte
mit ihr zusammenbleiben.
Und wenn er deswegen dem alten Rushden ähnlich war, sei’s drum. Er würde sie nicht gehen lassen.
In dieser Nacht erwachte Nell vom Klang des Klaviers – eine leise, zarte Melodie, die so gedämpft durch die Wände drang, dass sie zuerst glaubte, sie würde noch träumen. Feenmusik, dachte sie erstickt. Schmerzlich schön, wie die Klagelieder alter Seeleute, wenn sie ans Meer dachten.
Eine Weile ließ sie sich von Kummer erfüllt auf den Tönen treiben, bis ihr ein Gedanke kam. Sie musste es wissen, musste sein Gesicht sehen, während er spielte. Leise stand sie auf und schlüpfte in den Flur.
Durch das Fenster am Ende des Ganges sah sie den Vollmond vor dem mit Mitternachtswolken marmoriertem Himmel. Die Steinbüsten an der Wand waren in Dreiviertelansicht erstarrt, die knochigen Nasen und gemeißelten Perücken warfen fremdartige Schatten auf den Teppich.
Die Klänge huschten wie Gespenster durch die Luft und führten sie Richtung Empfangshalle.
Vor dem Gesetz war sie die Herrin dieses Haushalts. Aber heute Nacht fühlte sie sich anders. Als würde sie sich heimlich in ein fremdes Zuhause stehlen, außer Atem und voller Angst. Vor jedem Ding in der Dunkelheit zuckte sie zusammen.
Hinter der letzten Tür, ganz nah an der breiten Galerie, fand sie die Musik. Als sie durch die Tür spähte, entdeckte sie Simon am Klavier. Seine Hände waren bleich im Mondlicht und bewegten sich fließend über die Tasten.
Er saß mit dem Rücken zu ihr. Weder Lampen noch der Kerzenständer neben ihm waren angezündet. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber seine Haltung beim Spielen verriet, dass er ganz in dieser Musik aufging, die mit ihrer Traurigkeit eine Seele vergiften könnte.
Sie hatte dieses Stück noch nie gehört.
Im Vergleich dazu klang die andere Etüde wie ein Wiegenlied.
Eine lange Minute blieb sie dort stehen, durchbohrt von den Klängen, zerrissen von einem Wunsch, dem sie nicht nachgeben konnte: zu ihm zu gehen und ihn zu berühren. Sich an ihn zu schmiegen und zu weinen.
Die Musik erklärte ihr etwas, das sie nicht wissen wollte. Tiefer als Worte es vermochten, zeigte sie ihr seinen Kummer. Wenn er in dieser Musik aufging, litt er genauso wie sie.
Was sollte sie mit diesem Wissen anfangen? Es konnte ihr nicht helfen. Ihr Schmerz wurde dadurch nur noch heftiger. Beinahe hätte sie sich ihm ganz hingegeben. Ihm mehr vertraut als je einem anderen Menschen zuvor – sogar mehr als sich selbst. Und all das hatte auf einem falschen Versprechen beruht. Er hatte immer gewusst, dass er sie verlassen konnte, falls ihre Pläne nicht aufgingen. Er hatte das sogar geplant.
Jetzt behauptete er, dass er sie nicht verlassen wollte, aber stimmte das? Katherines Feindseligkeit hatte deutlich gemacht, dass es nicht leicht werden würde, Nells Geburtsrecht wiederzuerlangen. Vielleicht würde sie nie bekommen, was Cornelia zustand – und niemand würde St. Maur dann Vorhaltungen machen, wenn er seine mittellose Frau aus den Elendsvierteln wieder verstieß.
Der Gedanke enthüllte eine Leere in ihr, die finsterer war als jeder Hunger, den sie hatte aushalten müssen.
Ich verdiene dein Vertrauen
, hatte er gesagt.
Aber sie war es, die alles riskierte.
Hier zu stehen und sich nach ihm zu sehnen … auf ihn zu hoffen, obwohl er schon geplant hatte, wie er sie fortschicken konnte … Das könnte wirklich ihr Tod sein.
Als die erste Träne fiel, atmete sie langsam ein und hob dann die Röcke für den einsamen Weg über den Flur zurück.
16
Am nächsten Morgen wachte Nell mit Kopfschmerzen auf, die mit dem heller werdenden Licht nur schlimmer wurden. Sie ließ sich das Frühstück in ihre Zimmer hinaufbringen und stocherte lustlos darin herum, während die Uhr im Gang das quälend langsame Voranschreiten des Tages zählte.
Sylvie bot an, sie auf einen Spaziergang zu begleiten. Aber der Gedanke, von Reportern verfolgt zu werden, war nicht sehr verlockend.
Schließlich begab sie sich in die Bibliothek, um sich
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