Eine naechtliche Begegnung
entscheiden, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
9
Plötzlich kam Simon der Gedanke, Nell die Galerie zu zeigen. Vielleicht hatte er die Vorteile, die ihre Mitarbeit ihr bringen würde, nicht klar genug herausgestellt. Die Galerie würde sie wirkungsvoll anpreisen.
Als sie um die Ecke bogen, blieb Nell stehen. Wahrscheinlich staunte sie angesichts der gewölbten Kathedralendecke und der langen Wand, in die Buntglasfenster eingelassen waren. »Sterne«, sagte sie sanft. Ihre Hände vergruben sich wie kleine, ängstliche Tiere in den Falten ihres Kleides, als sie sich umsah.
Während er sich dabei ertappte, nur sie anzusehen – und sich plötzlich lebendig daran zu erinnern, wie sie an jenem ersten Morgen in der Bibliothek ausgesehen hatte. Erschöpft und mitgenommen hatte sie zu den Oberlichtern hinaufgesehen und genauso geleuchtet wie jetzt. So hell, dass die Details ihrer zerlumpten Erscheinung vollkommen davon überstrahlt wurden.
Das Leuchten hatte jetzt einen ganz anderen Zauber. Gepaart mit dem sittsamen rosa Kleid verlieh es ihren Gesichtszügen eine neue Bedeutung. Ein Mann konnte den Glanz in ihren großen blauen Augen als Unschuld missdeuten – oder als Geistlosigkeit, sagte er sich. Es war Kittys leerer Blick.
Aber er konnte nicht an der Vorstellung festhalten. Nell trug ihr braunes Haar in einem strengen Knoten, ein Stil, der Kitty nicht gefallen würde. Lächerlicherweise beschwor diese Frisur fehlende Eitelkeit, sie passte zu einem Mädchen, das auf dem Weg in die Kirche den Kopf senkte. Man musste Nell schon besser kennen, um darauf zu kommen, dass dieser kleine, jetzt voller Bewunderung leicht offen stehende, rosa Mund eine scharfe Zunge verbarg, die Flüche herausschleuderte wie ein Seemann.
Simon kannte Nell besser.
Der Gedanke war eigenartig schockierend. Dass ihre Tarnung für ihn so durchschaubar war, kam ihm plötzlich bedeutsam vor. Im Vergleich zu dieser Vertrautheit schien seine Wut belanglos zu sein.
»Es ist wie ein Palast«, sagte sie.
Als ihre Augen, die vor Erstaunen hell erstrahlten, in die seinen blickten, hielt er den Atem an.
Der kehlige Klang ihrer Stimme war nicht das Einzige, was sie von ihrer Zwillingsschwester unterschied. Trotz des schroffen Wortwechsels vor ein paar Minuten machte Nell keine Anstalten, ihre Bewunderung zu verbergen. In der Welt ihrer Schwester, in seiner Welt, war man stets bemüht, unbeeindruckt zu wirken.
Zum ersten Mal im Leben fragte er sich warum. Eine so offensichtliche Freude wie diese hier würde jeder erneut erleben wollen. Jeder Mann würde sie erneut beeindrucken wollen. Und am liebsten wäre er den ganzen Tag lang selbst der Gegenstand so bewundernder Blicke.
Die Richtung seiner Gedanken fing an, ihn zu irritieren.
»Es ist überhaupt nicht wie ein Palast«, sagte er. »Ich muss Ihnen bei Gelegenheit den Buckingham Palace zeigen.«
Das Leuchten verdüsterte sich. Vielleicht glaubte sie nicht, dass er das Angebot ernst meinte. »Jedes frisch getraute Ehepaar muss der Königin vorgestellt werden«, fügte er erklärend hinzu. »Der nächste Empfang ist erst im kommenden Mai, aber«, er machte eine winzige Pause, »falls Sie sich entscheiden zu bleiben, nehmen wir daran teil.«
Ihr Mund verdrehte sich zu einem kleinen Lächeln. Sie schluckte den Köder nicht. »Sie sind verrückt«, sagte sie. »Sie wollen mich der Königin vorstellen?«
Ihr belustigter Tonfall überraschte ihn. Für einen Augenblick, und zweifellos in Kombination mit ihrer sittsamen Aufmachung, stimmte ihn das nachdenklich.
Vielleicht war er wirklich verrückt. Sollten sie wirklich im nächsten Mai noch verheiratet sein – sollte sie vor dem Gesetz als Lady Cornelia anerkannt werden und die Ehe den gewünschten finanziellen Erfolg bringen –, dann folgte daraus trotzdem nicht, dass sie gemeinsam in der Gesellschaft verkehrten. Wie reich sie auch immer wäre, sie blieb ein Kind des East End, ein Mädchen, das im Dreck aufgewachsen war und für seinen Lebensunterhalt gearbeitet hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich in seinen Kreisen amüsieren würde.
Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie irgendetwas Bewundernswürdiges an ihnen entdeckte.
Der Gedanke verstörte ihn. Aber warum eigentlich? Was hieß es schon, wenn ihre Erziehung ihre Fähigkeiten, seine Welt zu würdigen, einschränkte? Seine Freunde würden sie ebenfalls nicht schätzen. Die mondänen Kreise bewunderten seinen Geschmack, er konnte sie dazu bringen, ihm beinahe alles über
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