Eine naechtliche Begegnung
auf sie zu. »Und man kokettiert, oder?«
Ihr Atem beschleunigte sich. »Das Kokettieren übernimmt das Mädchen«, sagte sie. »Nun, jedenfalls das Reden. Der Junge kokettiert mit seinem …« Körper, wollte sie sagen, als ihre Augen ohne ihr Zutun an ihm hinunterblickten. Sobald sie ihm wieder ins Gesicht sah und bemerkte, wie er sie anblickte, schnürte sich ihr die Kehle zusammen.
»Vielleicht ist es nicht so wichtig«, sagte sie hastig. »Sie müssen eigentlich nicht wissen, wie man mit einem Mädchen aus Bethnal Green flirtet.«
»Oh, ich glaube schon.« Plötzlich stand er wieder direkt vor ihr, legte seine Hand an ihre Wange und streichelte ihr sanft über die Unterlippe. »Ich wüsste wirklich gern«, sagte er heiser, »was einem Mädchen aus Bethnal Green gefallen würde.«
»Sie machen es schon ziemlich gut«, flüsterte sie.
»Und ich strebe danach, noch besser zu werden.« Sein Blick fiel auf ihre Lippen, und seine Miene verdüsterte sich. »Aber Sie«, sagte er, »tun das nicht.«
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass die Bemerkung nicht nett gemeint war. »Verzeihung?«
Er ließ seine Hand hinunterfallen und machte einen gemessenen Schritt rückwärts. »Sie geben sich keine Mühe«, sagte er. »Sie verschwenden meine Zeit. Wenn Sie dieses Projekt nicht ernst nehmen, dann … sollten Sie gehen.«
»Gehen?« Sie musste sich einen Augenblick lang sammeln. »Sie haben sich die Sache anders überlegt?«
»Ich habe mir gar nichts anders überlegt«, antwortete er. »Ich habe nie behauptet, dass ich Sie zu Ihrem persönlichen Vergnügen unterstütze. Ich will eine Erbin zum Heiraten. Wenn Sie kein Interesse daran haben, Lady Cornelia zu werden, dann habe ich kein Interesse mehr an Ihnen.«
Panische Angst überfiel sie gleichzeitig mit plötzlicher, brennender Wut. Seine Meinung war ihr keinen Pfifferling wert! Inzwischen hatte sie genügend wertvolles Zeug beiseitegeschafft, sie wäre froh, endlich von hier zu verschwinden! Aber sie hatte geglaubt, noch ein wenig Zeit zu haben, bevor sie wieder auf Michael traf. Sie hatte auch noch keine Pläne für eine neue Arbeit – und wie wagte er überhaupt, ihre Abmachung einfach so aufzukündigen!
»Gehen Sie zurück nach Bethnal Green«, sagte er. »Verschwenden Sie den Rest Ihres zweifellos kurzen Lebens, indem Sie für Pennys in einer Fabrik schuften, die Sie vielleicht hätten kaufen können. Oder bleiben Sie hier und investieren Sie die nötige Arbeit, um Ihr Geburtsrecht zurückzuerhalten.« Er zuckte mit den Achseln. »Ihre Entscheidung. Aber treffen Sie sie schnell. Wenn Sie nicht bereit sind, eine Lady zu werden, dann muss ich selbst andere Pläne machen.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.
»Warten Sie«, platzte sie heraus.
Ungeduld zeigte sich in jeder Linie seines Körpers, als er sich wieder umdrehte.
Stockend atmete sie ein. Sie hatte gewusst, dass er ihr alles wieder wegnehmen konnte, aber sie hatte geglaubt – es war dumm gewesen, so verdammt dumm –, dass er sie mochte. Und außerdem besaß er so unglaublich viel. Konnte er nicht ein wenig von seinem Vermögen erübrigen, ohne dass sie dafür Männchen machen musste?
Aber sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Jetzt war das Märchen vorbei. Ihr Magen wurde flau bei dem Gedanken, nach Bethnal Green zurückkehren zu müssen – ohne konkrete Pläne für einen Job und für den Umgang mit Michael. Es durfte einfach nicht so enden. Wie furchtbar wäre es, auf diesen Moment zurückzublicken und nicht St. Maurs Arroganz daran die Schuld zu geben, sondern ihrer eigenen Dummheit.
Wie
furrrchtbar
. Das war eines der Worte, deren Aussprache ihr Schwierigkeiten bereitete. Mr Aubrey, der Vortragskünstler, tadelte sie immer, weil sie das
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wie ein
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aussprach. Es war
furrrchtbar
, sich so schwerfällig und ungeschlacht zu fühlen. In der Schule war sie immer die Beste gewesen. Zahlen, Buchstaben, Geografie, Geometrie – nie hatte sie groß nachdenken müssen. Sie hatte sich immer für klug gehalten, nicht nur für ein Mädchen aus Bethnal Green, sondern generell. Der Gedanke, dass sie sich vielleicht geirrt hatte, war ihr unerträglich.
Vielleicht hatte diese Angst sie daran gehindert, es wirklich zu versuchen.
Sie öffnete den Mund, um all das zu sagen – oder nur »Es tut mir leid«. Aber nichts kam heraus. Ihre Zunge war so schwer und nutzlos und dickköpfig wie ihr Stolz.
Laut erklang St. Maurs Seufzen in der Stille. »Kommen Sie«, sagte er. »Bevor Sie sich
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