Eine naechtliche Begegnung
Kunst zu glauben, das sie nicht verstanden. Aber über Armut glaubten sie alles zu wissen. Sie hatten Hausmädchen und Kutscher, jeder hatte irgendeine amüsante Geschichte über eine Begegnung mit einem aggressiven Gassenjungen. Täglich sahen sie durch die Fenster ihrer Kutschen Schmutz und Dreck. Sie würden in Nell nichts Neues, keine Schönheit erkennen. Nell wäre ihnen sogar furchtbar unbequem: der Beweis, dass unter dem Schmutz Menschen steckten. Sie würde ihnen kaum mehr bedeuten als ein Vorwurf in Menschengestalt.
Es wäre eine Herausforderung, diese Leute umzustimmen. Die größte, die er je angenommen hatte.
Und er liebte es wirklich sehr, wenn er Leute gegen ihren Willen umstimmen konnte.
»Es ist entsetzlich langweilig bei Hof«, sagte er. »Zu warm. Öde. Sie werden es hassen. Aber wenn Sie bleiben, gehen wir hin.«
Sie beäugte ihn kritisch. Kurz sah er wieder Kittys Gesicht und fragte sich, warum es ihm überhaupt etwas ausmachte, wenn sie fortginge. Dann sah er eine Frau mit dunkleren Augen, fast marineblau, die ihn an das Meer fünfhundert Meilen vor der Küste erinnerten. Diese Augen luden ihn ein zu ertrinken.
Er atmete geräuschvoll ein, als sie sprach. »Es ist öde, mit der Königin Umgang zu pflegen? Sie sind wirklich nicht leicht zu beeindrucken.«
Und dann wandte sie ihm den Rücken zu und sah sich die Bilder an.
Konsterniert betrachtete er ihre schmalen Schultern. Wieder einmal, wie bei der verwirrenden Begegnung mit der Dienerschaft letzte Woche, verlor er wegen ihr das Gleichgewicht, als triebe er hilflos und ohne sich irgendwo festhalten zu können auf einem Meer unerfüllter Erwartungen. Sie hatte etwas, das man mit Geld nicht kaufen konnte: übergroße Präsenz.
Er war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Man musste ihr die Lady abkaufen, aber nur eine Grand Dame wurde dafür bewundert, Männer aus der Fassung zu bringen.
Was sah sie, wenn sie ihn betrachtete? Wollte er das überhaupt wissen?
Nun, für diesen Moment war es ziemlich klar. Sie hielt ihn für einen Angeber.
Guter Gott. Vielleicht war er das sogar.
Zu seinem Ärger und seiner Verwunderung spürte er, wie er rot wurde.
Es war einfach eine dämliche Idee, sie verführen zu wollen. Sie musste aus eigenem, freiem Willen kooperieren. »Wir könnten die Formalitäten überspringen«, sagte er.
Ohne etwas zu erwidern, betrachtete sie die lange Reihe der Porträts. Sie verlagerte das Gewicht auf ein Bein und ließ ihre Hüfte hervorspringen.
Sie ignorierte ihn einfach. Er war so tief erstaunt, dass ihm klar wurde, wie neu das für ihn war. Nur mit Mühe unterdrückte er eine kindische Bemerkung über ihre absolut undamenhafte Haltung.
Er stellte sich neben sie, absichtlich zu nah. Auf einer intuitiven Ebene verstand er ihr betontes Desinteresse. Nachdem er ihr den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, bewahrte sie sich ihren Stolz, indem sie demonstrierte, dass sie keinesfalls aus Rücksicht auf ihn bliebe.
Aber sie war zu intelligent, um diese Gelegenheit einfach verstreichen zu lassen.
Stolz bringt dich nicht weiter
, dachte er.
Benutze deinen Kopf, Nell
. Das Arrangement erforderte ein gewisses Entgegenkommen ihrerseits. Sie müsste sich von ihm leiten lassen. Sie müsste anerkennen, dass sie ihm etwas schuldete. »So viel ist klar«, sagte er, »die Kleidung, die ich Ihnen gegeben habe, gefällt Ihnen.«
Sie sah ihn nicht an, es war eher, als zeigte sie ihm eine Dreiviertelansicht von sich. Ihre Nase, Kittys Nase, war wie dafür gemacht, Herablassung zu demonstrieren. »Es sind gute, haltbare Sachen.« Sie klang widerwillig. »Aber ich brauche ein Korsett, das mir besser passt. Und ein wenig Spitze könnte auch nicht schaden.«
Jetzt musste er wirklich lachen. Sicher, er war nicht leicht zu beeindrucken, aber sie anscheinend auch nicht. Aber er wollte sie beeindrucken. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er es bis jetzt nicht geschafft hatte.
Um Gottes willen, er verlor langsam den Verstand.
Simon räusperte sich. »Wie ich schon sagte, Ihre jetzige Garderobe ist – oder wäre – nur für den Übergang.«
Nell nickte. »Diese Schneiderin …«
»Modistin.«
Sie warf ihm einen undurchdringlichen Blick zu. »Diese Modistin sagte, sie hätte die ersten Kleider in zehn Tagen fertig.«
Er nickte. Wie schade, dass er die Anprobe vor ein paar Tagen verpasst hatte. Plötzlich malte er sich aus, wie er zu einem günstigen Moment hereingeplatzt wäre und sie im Unterkleid ertappt hätte, mit Maßband
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