Eine naechtliche Begegnung
umwickelt, die hübschen Lippen zu einem O gerundet, während sie unter seinem prüfenden Blick zitternd errötet wäre.
Doch er war ein Trottel. Sie hätte nicht gezittert. Sie hätte ihm einen Hocker an den Kopf geworfen.
»Wer sind diese Leute?«, fragte sie.
Richtig. Das war der eigentliche Grund, weshalb er sie in die Galerie geführt hatte. Er folgte ihrem Blick zu dem finster blickenden alten Mann vor ihr. »Das sind Ihre Eltern«, sagt er. »Vor Ihnen der letzte Lord Rushden. Rechts daneben Ihre Mutter.«
Nell spürte ein merkwürdiges kleines Hüpfen im Bauch. Sie trat näher an die Bilder heran. Der letzte Earl posierte zu Pferd auf einem weiten Rasen vor dem Gebäude, das sie auf dem Gemälde in der Bibliothek gesehen hatte. Paton Park hatte St. Maur es genannt.
Das Haus war zu schön, um wahr zu sein. Ein Palast aus rosa Backstein inmitten von sanften Hügeln, die grüner waren als St. James im Frühling. Sie sah es jetzt zum zweiten Mal. Bei dem Anblick fühlte sie ein Flattern in der Brust, ein sonderbares Gefühl, das drohte heftiger zu werden, je länger sie hinsah.
Sie schlang die Arme um sich. Zweifellos waren diese sonderbaren Ideen nur Einbildung. Die Kleider und die vornehme Umgebung blendeten sie, und St. Maurs Ultimatum brachte sie zusätzlich durcheinander. Deshalb erfand sie Lügen:
Du erinnerst dich. Du gehörst hierher. Du verdienst das alles
.
Es war so leicht, sich Illusionen zu machen. Mum hatte sich ziemlich viele Illusionen gemacht. Sie hatte sich für besser und frommer gehalten, zu gut für diese Welt. Und was hatte es ihr eingebracht! Den Hohn der Nachbarn in Bethnal Green, die Verachtung der Vorarbeiterin und die schlimmste Arbeit in der Fabrik – ein rascher Weg zu einem schmerzhaften Tod.
Aber bei all ihrem albernen Getue war Mum niemals grausam gewesen. Wenn Nell beschloss, dass sie diesen Ort wirklich wiedererkannte, dann hieße das, dass ihre Mutter eine Countess war und Mum mehr als grausam. Dass Mum etwas unaussprechlich Böses getan hätte.
Sie unterdrückte den seltsamen Drang zu lachen. Das war nicht komisch, absolut nicht. Mum hatte sie geliebt. Dessen war sie sich sicher. Mum war verwirrt gewesen, aber niemals gefährlich.
»Meine Mum war kein schlechter Mensch.« Es kam abgehackt heraus. Es sollte nicht notwendig sein, so etwas zu sagen.«
»Das freut mich.« St. Maur schob die Hände in die Taschen. Wachsam. Abwartend. Kein Urteil in seinem Gesicht, keine Sorge.
Keine Sorge: Das charakterisierte ihn wirklich gut. Mit diesen Worten hätte sie ihn Hannah beschreiben sollen. Er schien vollkommen unbeschwert, aber nicht in der Art eines Kretins. Nell begriff, dass er die Welt sah wie ein Zyniker, der nicht nach falscher Hoffnung suchte.
Aber er ließ auch nicht zu, dass die Welt ihm Sorgen bereitete. Er hatte die Ausstrahlung eines Mannes, der wusste, dass er immer die Oberhand behielte, wenn es zum Kampf käme.
Über sie selbst hatte er ganz gewiss die Oberhand. Sein Angebot war teuflisch.
Sich in jemand anderen verwandeln
. Gewöhnliche Männer feilschten nur um den Körper einer Frau. Sein Angebot war höher, aber auch seine Forderung. Sie sollte das Andenken an einen geliebten Menschen verraten.
Nell kaute auf ihrer Lippe. Sie hatte geschworen, sich niemals zu verkaufen. Aber niemand hatte ihr je so viel geboten. Und was immer es nun bedeutete … sie kannte den Ort auf dem Gemälde.
Wenn sie bei der Bibel schwören müsste, würde sie sagen, dass es eine Erinnerung war.
Sie zwang sich, das Bild noch einmal anzusehen. Nie war sie aus Angst vor etwas zurückgeschreckt, und das würde sie auch jetzt nicht tun. »Da ist eine Brücke. Eine geschwungene Brücke über einem Fluss.« Nell erinnerte sich – sie hatte davon geträumt –, dass sie Pennys hineingeworfen hatte. Kupfer blitzte im Sonnenlicht.
»Ein Bach, ja«, sagte St. Maur. »Hinter dem Haus.«
Seine Stimme war neutral. Nicht überrascht. Wut durchpeitschte sie. Sie wollte, dass ihn irgendetwas überraschte. Er war der Inbegriff von hochwohlgeboren, immun für die Kratzer und Beulen, die sich andere Menschen im Verlauf ihres Lebens zuzogen. Wahrscheinlich war er noch nie in seinem Leben außer Fassung geraten. »Hat es irgendeine Bedeutung für Sie, ob es eine Brücke gibt oder nicht? Ist es Ihnen denn völlig egal, ob ich diese Cornelia wirklich bin oder nicht?«
Kurz sah er zu ihr hinunter. Sie hielt immer noch die Arme um sich geschlungen. »Ja, eigentlich schon.«
Sie ließ die Arme
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