Eine private Affaere
erwartet, daß er sich einen gutmütigen Soziologen als Mentor suchen würde, einen von den vielen jungen Londoner Männern mit müdem Gesicht, die so gut erklären können, was nicht stimmt mit der Gesellschaft, und die nur zu gern mit rehabilitierten Verbrechern auf ein Bierchen in einen Pub gehen. Statt dessen breitete er immer, wenn wir uns trafen, seine neuesten Erkenntnisse vor mir aus und musterte mich dann mit argwöhnischem, aufrichtig interessiertem Blick.
»Und – hab’ ich recht? Aber klar! Mein Gott, James, wir leben alle in der Gosse. Die Leute scheißen sich gegenseitig an, und keiner gibt’s zu. Keiner.« Er sah mich an. »Jemand anders würd’ ich das nicht sagen, aber manchmal fällt’s mir gar nicht leicht, in die Kurse zu gehen. Die Vorträge sind okay, aber die Kurse – da sitzen vier oder fünf siebzehnjährige Kids, dann komm’ ich rein, der große, haarige Exsträfling. Die machen sich vor Angst beinahe in die Hose, besonders der Lehrer. Der ist ungefähr so alt wie ich. Um ehrlich zu sein: Ich muß mich jedesmal überwinden.«
Er nahm mich mehrmals in sein kleines Zimmer in Camden Town mit. Wenn er über die Schwelle trat, veränderte sich seine Stimmung. Da er nicht wußte, wie man sich als Gastgeber benahm, wurde er unbeholfen und gleichzeitig nonchalant, denn schließlich war dies ja sein Reich. Dem möblierten Zimmer war leider der Stolz anzumerken, mit dem der Vermieter es eingerichtet hatte. Ein großes, grelles Bild von einem dunkelhäutigen Mädchen auf einer Tropeninsel (Thirst hatte ihm den Titel »Die Nutte« gegeben) hing über dem Bett. Rüschenvorhänge bauschten sich zu beiden Seiten der Fenster wie Petticoats. Wenn man die Gemeinschaftstoilette benutzte, fiel der Blick auf ein Schild mit der Aufschrift, man solle das Örtchen vor dem Verlassen saubermachen und nach elf Uhr abends kein Bad mehr nehmen. Was für eine Erleichterung, Lord Denning rastlos in seinem Käfig in der einen Ecke des möblierten Zimmers hin und her laufen zu sehen. Auf dem Regal über ihm stand eine zerlesene Encyclopaedia Britannica , daneben die neueste Ausgabe des Guinness Buch der Rekorde sowie der Concise Oxford Dictionary.
Thirst unterhielt sich gern über den Prozeß seiner eigenen Wiedereingliederung.
»Die meisten Leute haben keine Ahnung, wie es ist, wenn man sich verändern muß.«
»Die meisten Leute verändern sich auch nicht richtig«, sagte ich. »Ihre Programmierung findet bereits früh statt; sie reagieren nur, wenn man auf die richtigen Knöpfe drückt.«
»Weißt du, wie das wirklich ist?«
»Was?«
»Wenn man im Knast ist. Bloß, daß der Knast in deinem eigenen Kopf ist, und du bist gleichzeitig Wärter und Sträfling. Eines Tages werde ich ein Buch drüber schreiben, daß die Rehabilitierung nur eine Internalisierung des Gefängnissystems ist.«
»Internalisierung, das ist gut.«
»Es stinkt – das Leben. Frei ist man nie.«
Er hatte nie Alkohol oder andere Dinge zu Hause, die er Gästen hätte anbieten können. Deshalb kauften wir uns oft ein paar Dosen Bier und dazu Chips, wenn wir uns unterhalten wollten. Wenn er betrunken war, behauptete er manchmal, einen Mann umgebracht zu haben. Ich hatte keine Ahnung, ob der Alkohol ihm da tatsächlich ein Geständnis entlockte oder lediglich eine extravagante Weiterentwicklung seiner persönlichen Mythologie in Gang setzte. Die Geschichte jedoch war immer gleich: »Ich hab’ gewußt, daß er ’n Messer hat, da hab’ ich keine andere Wahl gehabt. Hab’ ihm in die Eier getreten und dann gleich die Finger um den Hals – richtig reingedrückt, wie wenn du sie in Dreck steckst.«
Wenn ich dazu aufgelegt war, erzählte ich von meiner Mutter, von ihrem Mut, wieviel ich ihr schuldete. Davon, wie wichtig Mütter waren. Er hörte mir dann mit merkwürdigem Gesichtsausdruck zu, beinahe so, als glaube er mir nicht. Einmal sagte er: »Ich hab’ da keine Ahnung von, James, meine Mutter hat meinen Vater bloß mal schnell am Samstagabend drüber gelassen, und das war’s.«
Er war nicht immer mißmutig. Wenn er mit dem Lernen gut vorankam, demonstrierte er seine entnervenden Einsichten in das Leben anderer.
»Weißt du, was ich mir neulich gedacht hab’? Ich hab’ über dich und Daisy nachgedacht. Weißt du, was sie für dich ist?«
»Sag’s mir.«
»Sie ist deine Trophäe. Durch sie kannst du dir beweisen, daß es das alles wert ist. Ich hab’ dich beobachtet. So viel machst du dir gar nicht aus Geld und Status, jedenfalls
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