Eine Schwester zum Glück
optimistisch, was meine neu gewonnene »Freiheit« betraf, als stünde ich kurz vor einem großen Abenteuer. Während ich vor versammelter Mannschaft bezüglich meiner Bettgeschichte mit Kid Dy-no-mite aus dem Nähkästchen plauderte – die Rollschuhderby-Fantasie, die Cagney-&-Lacey -Fixierung, Elton John auf Endlosschleife –, schoss mir auf einmal durch den Kopf: Ich sollte öfter was trinken gehen.
Allerdings gab es um sechs Uhr am nächsten Morgen, als ich mit dem Taxi nach Newark fuhr, die Stirn an die Fensterscheibe gepresst, nichts an dem Abend, was ich nicht bereut hätte.
Für den Heimflug hatte ich mithilfe von Frequent- Flyer-Bonusmeilen ein Upgrade zur ersten Klasse gebucht, und als wir durch den Holland-Tunnel schlingerten, klam merte ich mich an die Vorstellung, wie ich in einem dieser breiten Sitze eindösen würde, ein Glas Perrier auf dem Serviertischchen. Der vergangene Tag wirkte beinahe wie ein schlechter Traum, und ich war bereit, ihn so weit wie möglich hinter mir zu lassen. Mein Zuhause – eigentlich schon immer ein heikler Ort für mich – wirkte wie eine Zufluchtsstätte. Und da ich keine andere hatte, ließ ich mich darauf ein.
Doch am Flughafen hatten sie keinen Nachweis meines Upgrades. Und der Sitz, den man mir zugewiesen hatte, befand sich in der allerletzten Reihe.
Ich sagte: »Aber ich habe einen Buchungscode!«
Die Dame von der Fluglinie klickte auf ihrer Tastatur herum und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Da ist nichts.« Und dann, als wäre damit alles gesagt: »Dieser Buchungscode ist ungültig.«
Mir ging es nicht gut. Ich hatte Kopfschmerzen, mir war übel, ich war arbeitslos. Doch ich beschwerte mich nicht. Meine Mitbewohnerin Bekka war Flugbegleiterin. »Weißt du, was wir mit den unverschämten Passagieren machen?«, hatte sie mich einmal gefragt. »Wir leiten ihr Gepäck nach Frankreich um.«
Letzten Endes bedankte ich mich bei der Dame sogar noch für ihre Hilfe und machte mich auf den Weg zum offensichtlich schlechtesten Sitzplatz in dem ganzen Flieger – ein Trennwandsitz, dessen Rückenlehne sich nicht nach hinten verstellen ließ. Außerdem ging ich als allerletzter Passagier an Bord, und als ich mich endlich meinem Sitz näherte, stand ich kurz vor einem Zusammenbruch. Ich wollte mich bloß noch in meine kleine Ecke zwängen und schlafen, doch zuerst musste ich an den Passagieren in meiner Sitzreihe vorbei. Ich stopfte mein Handgepäck gewaltsam oben in die Gepäckablage, während die anderen ihre Sitzgurte öffneten, aufstanden, auf den Gang traten und warteten. Dann, als ich mich an ihnen vorbeischob und beinahe mein Ziel erreicht hatte, sprach mich einer meiner Sitznachbarn an. Wir waren Bauch an Bauch, während ich mich an ihm vorbeizwängte, und er sagte Folgendes: meinen Namen.
»Sarah«, sagte er – und zwar nicht wie eine Frage. Nicht wie: Bist du es? Sondern eher wie: Sarah. Natürlich. Als ich hochblickte, stand da, wenige Zentimeter vor mir, mein Freund aus der Highschool, Everett Thompson.
Ich hatte ihm das Herz gebrochen. Ich hatte ihm für einen dumpfbackigen Fußballkapitän mit schönen Waden den Laufpass gegeben. Bei meinem letzten Gespräch mit Everett war er siebzehn gewesen und vom Weinen ganz heiser. Ich konnte es beinahe noch hören. Er hatte sich herübergeschlichen und die Nacht vor meinem Fenster verbracht. Aus heutiger Sicht wirkt das niedlich, aber damals hat es mich dazu veranlasst, ihn am nächsten Tag in der Mädchentoilette als einen »totalen Freak« zu bezeichnen.
Doch er hatte sich wieder gefangen. Er ging nach Stanford und an die New York University School of Law. Er wurde Spitzenanwalt in L. A. Eine Zeit lang machte das Gerücht die Runde, er sei mit Mary-Louise Parker zusammen. Meine Schwester rief mich deswegen an: »Ich wette, du kommst dir ziemlich blöd vor, weil du ihm den Laufpass gegeben hast, was?«
»Yep«, sagte ich.
»Du könntest jetzt Mary-Louise Parker sein«, stichelte sie.
»Funktioniert das denn so?«
Hier im Flugzeug wurde mir klar, wie das Mary-Louise-Parker-Gerücht in Umlauf gekommen war. Auf einmal hatte Everett Starqualitäten. Er sah so anders aus als der Junge, den ich auf der Highschool gekannt hatte, als er ein Meter fünfundachtzig groß gewesen war und vielleicht vierzig Kilo gewogen hatte. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass er erwachsen geworden war. Das waren wir alle. Aber ich war überrascht. Er war nicht mehr so spindeldürr – und offensichtlich
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