Eine Schwester zum Glück
las ich die Bücher, weil ich meine Arbeit nicht leiden konnte? So oder so konnte ich nicht verdrängen, was in ihnen geschrieben stand: Wir lebten in einem Wirtschaftssystem, das darauf beruhte, dass man Zeug kaufte. Also musste es dafür sor gen, dass wir unzufrieden und unglücklich waren. Wir soll ten uns darauf konzentrieren, was wir nicht hatten, und nicht darauf, was wir hatten. Und es musste uns davon überzeugen, dass sich Dinge wie Glück, Friede und Schön heit kaufen ließen.
Nicht gerade der beste Bürotratsch.
Später stellte ich mir die Frage, ob die Werbebranche im Allgemeinen die ganze Welt über den Tisch zog oder ob bloß meine Firma mich über den Tisch zog. Ich bekam gewiss nicht genug Geld. Oder Anerkennung. Oder Wertschätzung. Doch solche Fragen bilden sich über einen langen Zeitraum heraus. Zuerst einmal brauchte ich eine Kleinigkeit, die wir einen Nervenzusammenbruch nennen könnten. Oder eine Erleuchtung. An beidem hatte ich keinerlei Interesse.
Soweit ich mich erinnere, passierte Folgendes: Am Abend vor unserer großen Abschlusspräsentation schickte meine Schwester mir einen E-Mail-Link mit der Betreff zeile »Titten, Titten, Titten!«. Ich war wegen des nächsten Tages zu aufgekratzt, um ins Bett zu gehen, und klickte darauf. Und da stieß ich auf eine riesengroße Bilddatei mit Brüsten von stinknormalen Frauen. Keine Gesichter, keine Körper, bloß Brüste. Brüste au naturel . Brüste in der freien Wildbahn. Brüste, ganz im Sinne von Mutter Natur.
Meine Schwester fand es einfach witzig. Ich dagegen reagierte anders: Zwanghaft scrollte ich immer weiter. Ich hatte in meinem Leben schon viele Brüste gesehen: im Fernsehen, in Filmen und auf den Titelseiten von Zeitschriften. Wer hätte das nicht? Aber ich hatte noch nie etwas wie diese echten Brüste hier zu Gesicht bekommen. Die Vielfalt war fesselnd. Hohe, tiefe, flache, volle. Dicht beieinander, mit Riesenabstand. Ungleich. Hängebusen. Schiefe Brustwarzen. Kleine. Sandsäcke. Quallen. Kakteen. Bananen, Dörrpflaumen und Gewürzgurken. Und hierbei handelte es sich um die Kategorie der Achtzehn- bis Zweiunddreißigjährigen. Dies waren Titten in der Blüte ihrer Jahre.
Unter jedem Foto stand eine Bildunterschrift der Brust besitzerin. Und jede Unterschrift las sich ungefähr so: »Das sind meine Brüste. Sie hängen schrecklich (oder sind ungleich oder klein oder voller Dellen oder hässlich oder peinlich oder gurkenförmig). Ich wünschte, ich könnte was dagegen tun.« Die Kommentare reichten von heftigem Hass bis zu leichtem Abscheu, aber niemand, absolut niemand schrieb: »Hier sind meine Brüste. Sind sie nicht toll? Ich finde sie prima – halleluja!«
Ich war dazu auserkoren, am Morgen um neun ins Büro zu stöckeln und die BH -Kampagne vor allen wichtigen Mitarbeitern der Firma zu präsentieren. Doch anstatt früh ins Bett zu gehen, wie ich ursprünglich geplant hatte, blieb ich bis drei Uhr morgens wach und klickte mich durch die Fotos. Etwas an der Echtheit der Brüste auf der Website unterstrich die Falschheit der Titten in unseren Anzeigen. Etwas an der Würde der echten Brüste ließ unsere marktschreierisch gehypten Ballons lächerlich erscheinen. Auf einmal wirkte die ganze Kampagne auf dringlich, laut, dumm und einfach nur unverschämt auf eine Art, die ich nicht ignorieren konnte. Wie war es möglich, dass ich mir darüber bisher noch nie Gedanken gemacht hatte? Himmel noch mal, wir standen kurz davor, jeden Bus in ganz Amerika mit dem Dekolleté einer Frau zu bepflastern!
Ich dachte an all die normalen Frauen, die ihre BH s für die Kamera ausgezogen hatten. Ich dachte an ihren Mut, mit den eigenen Schönheitsfehlern vorzutreten, um anderen zu helfen, über ihre eigenen hinwegzukommen. Und auf einmal schämte ich mich, weil ich Teil des Problems war. Ich betrachtete die Website so lange, bis die Abbildungen und Worte in meinem Kopf zu einem Stimmengewirr unzufriedener und verzweifelter Frauen anschwollen, das ich nicht mehr zum Schweigen bringen konnte. Jedenfalls nicht bis vier Uhr morgens. Da klickte ich nämlich in der E-Mail meiner Schwester auf »Weiterleiten«, wählte den Firmenverteiler aus und ging auf »Senden«.
Ich lehnte mich zurück und nickte ein leichtes Da-haben-wir-den-Salat -Nicken.
In der darauffolgenden Stille wurde mir bewusst, was ich soeben getan hatte. Ich setzte mich kerzengerade auf, rang panisch nach Luft und suchte nach einer Möglichkeit, das Versenden der E-Mail ungeschehen zu
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