Eine Schwester zum Glück
romantisch verklärt«, sagte ich. »Vielleicht ha ben wir uns getäuscht, und du bist gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Ja, vielleicht«, sagte sie, und wir schwiegen, während wir uns mit dem Gedanken auseinandersetzten.
Nach einer Weile wechselte ich das Thema. »Heute im Flugzeug habe ich neben Everett Thompson gesessen.«
Ich rechnete mit einem »Everett Wer?« oder damit, dass sie sich kaum an ihn erinnern würde – dass ich ihr ins Gedächtnis rufen müsste, wer er war, und die ganze lange Geschichte zwischen uns, obwohl ich am liebsten verdrängt hätte, wie ich ihn damals behandelt hatte. Später würden wir es besprechen. Das mussten wir. Das ist eine der Sachen, die Frauen einfach machen – die Vergangenheit wieder und wieder umkreisen: analysieren, verarbeiten, einen Sinn suchen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, dass es allzu viel Sinn darin zu suchen gab, was ich Everett angetan hatte: Wie ich zugesagt hatte, mit ihm zum Valentinstanz der Unterstufe zu gehen, aber wie ich dann später, als der Stürmer der Fußballmannschaft mich ebenfalls gefragt hatte, auch ihm zugesagt hatte. Und dann hatte ich Everett irgendwie nie Bescheid gegeben. Ich ließ ihn ein fach in einem geliehenen Smoking mit einer Handvoll Ro sen bei mir zu Hause aufkreuzen, wo er dann herausfand, dass ich bereits weg war.
An dem Abend hatte ich schließlich mit dem Fußballer darüber gestritten, ob er mir die Hand in den Ausschnitt stecken durfte oder nicht (er gewann) – und Everett bekam von meinem Vater eine Lektion über den Krieg von 1812 erteilt, während sie eine auf stumm geschaltete Tierdokumentation ansahen und Gebäck aßen. Als mein Dad zum Schlafen nach oben ging, wünschte Everett ihm eine gute Nacht und wartete dann auf der kleinen Veranda vor dem Haus auf meine Rückkehr. Ich kam um halb eins nach Hause – eine halbe Stunde nach Zapfenstreich –, traf auf den wartenden Everett und machte auf der Stelle Schluss mit ihm. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich etwas lächerlich Highschoolmäßiges sagte wie: »Bleib cool.« Ich weiß, dass ich danach nicht mehr in der Schule mit ihm redete, seine Anrufe entgegennahm, seine Briefe las oder ans Fenster kam, wenn er Kiefernzapfen dagegenwarf.
Im Wagen mit Mackie rechnete ich damit, die ganze Geschichte noch einmal durchgehen zu müssen. Doch das war nicht die Reaktion, die ich bekam. Ich hörte stattdessen: »O Gott! Das hab ich ganz vergessen, dir zu erzählen!«
»Vergessen, mir was zu erzählen?«
»Clive hat ihn kürzlich eingestellt.«
Das ging mir zu schnell. »Clive hat kürzlich meinen Freund aus der Highschool eingestellt? Er wird für ihn arbeiten?«
Mackie nickte. »Ja! Auf Honorarvorschuss! Als juristischer Berater!«
»Und du hast vergessen, mir das zu erzählen?«
»Nun ja«, sagte sie. »Ich wollte es dir gleich am Flugha fen sagen.« Bei dem Gedanken an die große Entscheidung, die sie soeben getroffen hatte, holte sie tief und entschlossen Luft. »Aber dann hab ich’s vergessen.«
»Sicher.« Natürlich. Dann sagte ich: »Ich dachte, er wäre in L. A .«
»War er auch«, sagte Mackie. »Letztes Jahr ist er nach New York gezogen. Irgendeine große Beförderung.«
Das ergab keinen Sinn. »Wieso zieht er dann zurück nach Texas?«
»Das weiß keiner. Es ist ein großes Geheimnis. Aber wir haben ihn uns gekrallt.« Dann kniff Mackie die Augen zusammen und versuchte, sich an damals zu erinnern. »Was hast du ihm gleich noch mal angetan?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Hasst er dich immer noch?«
»Ja«, sagte ich. »Er hasst mich definitiv noch.«
»Wie blöd«, sagte sie. »Denn er kommt auf die Thanksgiving-Party.«
Deshalb war ich einen Tag früher nach Hause gekommen. Wegen der Thanksgiving-Party. Clives Firma veranstaltete jeden Monat ein Fest, und ich hatte noch nie an einem teilgenommen. Es ging um den firmeninternen Gemeinschaftssinn – Teil der Management-Strategie, die Clive zum Senkrechtstarter in der Welt des Vertriebs von Online-, Öko- und Bio-Holzspielzeug gemacht hatte. Die Management-Strategie, die Clacker Toys auf die Titelseite von Business Week gebracht hatte.
»Es wird keine langweilige Bürofeier«, beteuerte Mackie, als sie anrief. »Es wird eine richtige Party .«
»Man feiert keine Thanksgiving-Partys«, hatte ich gesagt. »Das ist nicht die Art von Feiertag.«
»Tja, aber das sollte es sein«, hatte Mackie gesagt, um dann hinzuzufügen: »Clive verkleidet sich als
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