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Eine schwimmende Stadt

Eine schwimmende Stadt

Titel: Eine schwimmende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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kritischen Moment seine Masten geopfert werden müssen.
    Der Great-Eastern war jetzt nahe herangekommen und umkreiste das defecte Fahrzeug; er signalisirte seine Gegenwart durch zahlreiche Pfiffe, so daß die Luft förmlich davon zerrissen wurde, aber auf dem Wrack blieb Alles stumm und verödet. Nicht ein Boot befand sich an den Seiten des Schiffes, und soweit das Auge den vom Horizont umgrenzten Meeressaum überschauen konnte, auch nicht das Geringste in Sicht.
    Ohne allen Zweifel hatte die Mannschaft Zeit gehabt, zu entkommen; hatte sie aber das dreihundert Meilen entfernte Land erreichen können? Konnten gebrechliche Kähne den Wogen widerstehen, die den Great-Eastern so arg hin und her warfen? Und wie lange Zeit war seit der Katastrophe verflossen? Konnte nicht auch der eigentliche Schauplatz des Schiffbruchs bei dem jetzt herrschenden Winde weiter im Westen sein? War dieser Rumpf nicht schon seit geraumer Zeit unter dem Einfluß aller möglichen Strömungen und Brisen umhergetrieben? Alle diese Fragen entzogen sich jeder Beantwortung.
    Als unser Dampfer an dem Hintertheil des desolaten Fahrzeuges hinstrich, las ich deutlich auf seinem Spiegel den Namen »Lerida«, aber eine Bezeichnung seines Anlegehafens war nicht vorhanden. Die Matrosen an Bord erklärten, daß seine erhabene Form und das eigenthümliche Ueberschießen des Vorderstevens auf einen amerikanischen Bau schließen lasse.
    Ein Kauffahrtei-oder Kriegsschiff hätte nicht gezögert, den Rumpf mit seiner jedenfalls sehr werthvollen Ladung zu bemannen, da die Seegesetze unter solchen Umständen den Bergern ein Drittel des Werthes zusprechen, aber der Great-Eastern hatte einen regelmäßigen Dienst zu versehen und konnte deshalb nicht einige Tausend Meilen weit dieses Wrack in’s Schlepptau nehmen; ebenso unmöglich war es, noch einmal umzukehren und es in einen sicheren Hafen zu geleiten. Man mußte das Schiff, zum großen Bedauern der Matrosen, seinem Schicksal überlassen, und bald sah man nichts weiter von ihm, als einen großen, schwarzen Punkt am Horizont, der kleiner und kleiner wurde und nach und nach ganz verschwand. Die Passagiere gingen theilweise in die Säle, theilweise in ihre Cajüten zurück, und konnten nicht einmal durch die Lunchtrompete aus ihrem Schlaf oder aus der tiefen Niedergeschlagenheit der Seekrankheit erweckt werden.
    Gegen zwölf Uhr ließ Kapitän Anderson die beiden Focksegel und das Besansegel beisetzen, und das so besser geschützte Schiff fuhr jetzt ruhiger. Die Matrosen machten auch einen Versuch, das auf seinem Giekbaum eingerollte Briggsegel nach einem neuen System aufzustellen, aber es war dies jedenfalls »zu neu«, denn es gelang absolut nicht, das Segel auf diese Weise nutzbar zu machen, und so blieb es die ganze Reise über ungebraucht.
Zehntes Capitel
Das Leben an Bord und physiognomische Studien, mit Randglossen von Doctor Pitferge.
    Trotz der unregelmäßigen Bewegungen des Dampfers organisirte sich bald das Leben an Bord, und dies ist bei den Angelsachsen nicht gerade schwierig. Der Engländer sieht das Schiff als seine Wohnung, seine Straße, sein Geschäftslocal an, das sich mit ihm von der Stelle bewegt, er fühlt sich zu Hause, während man jedem Franzosen sofort ansieht, daß er reist.
    Wenn das Wetter schön war, promenirte eine große Gesellschaft auf den Boulevards, und all diese Spaziergänger, die trotz der Bewegungen des Rollens ihre senkrechte Stellung beibehielten, sahen aus wie Betrunkene. Wenn die weiblichen Passagiere nicht auf das Verdeck stiegen, blieben sie in ihren Privatzimmern oder im Saal, von wo dann geräuschvolle Claviermusik ertönte. Noch muß ich bemerken, daß diese Instrumente hier auf hoher See so hohl klangen, daß selbst das Talent eines Liszt ihnen nicht rein klingende Harmonieen entlockt hätte. Der Baß versagte, wenn sich das Piano backbordwärts neigte, und die hohen Töne klangen jammervoll, sowie sich das Instrument nach dem Steuerbord bog. Um die hierdurch nothwendig entstehenden Lücken und Disharmonieen kümmerten sich die angelsächsischen Ohren jedoch äußerst wenig. Unter all diesen Claviervirtuosen fiel mir eine große, starkknochige Frau auf, die als ausgezeichnete Pianistin galt. Um sich die Lectüre ihres Musikstücks zu erleichtern, hatte sie alle Noten wie auch die Tasten des Claviers mit entsprechenden Nummern versehen, war die Note mit siebenundzwanzig numerirt, so schlug sie die Taste siebenundzwanzig an, war es Note dreiundfünfzig, Taste

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