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Eine schwimmende Stadt

Eine schwimmende Stadt

Titel: Eine schwimmende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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bedeutend weiter vom Katarakt entfernt. Es giebt sogar Geologen, die da behaupten, daß der Fall vor 35,000 Jahren in Queenstown, sieben Meilen von hier stromabwärts, gelegen habe. Nach M. Bakewell würde er nur in jedem Jahr um einen Meter zurückweichen, und nach Sir Charles Lyell sogar nur um einen Fuß. Jedenfalls wird der Augenblick kommen, wo der Felsen, auf dem der Thurm steht, von dem Wasser unterminirt sein wird und den Katarakt hinabgleitet. Von einer Thatsache aber können Sie überzeugt sein, mein lieber Herr: wenn der Terrapin-Tower hinabstürzt, werden sich gerade einige excentrische Menschen hier an unserem Platz befinden, die dann mit ihm den Niagara hinabfahren.«
    Ich sah mir unwillkürlich den Doctor darauf an, ob er wohl auch unter diesen Originalen sein würde, aber ich hatte keine Zeit, diesem Gedanken weiter nachzuhängen, denn er machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen, und wir betrachteten von Neuem den »Horse-Shoe-Fall« und die ihn umgebende Landschaft. Man unterschied jetzt den in der Entfernung etwas kleiner scheinenden amerikanischen Fall, der durch die Spitze von der Insel getrennt ist, auf der sich auch ein kleiner hundert Fuß breiter Central-Katarakt gebildet hat. Dieser amerikanische, ebenso schöne Fall ist ungekrümmt, und seine Höhe beträgt im Loth hundertvierundsechzig Fuß. Um ihn aber in seiner ganzen Majestät vor Augen zu haben, muß man sich gegenüber auf das canadische Ufer stellen.
    Bis der Abend hereinbrach, wanderten wir an den Ufern des Niagara umher, und immer wieder kehrten wir zu dem Thurm zurück, der uns unwiderstehlich anzog; man wird nicht müde, das Gebrüll der Wasser, den mystischen Nebel der feuchten Dünste, das Spiel der Sonnenstrahlen zu betrachten und den erfrischenden, köstlichen Duft des Katarakts einzuathmen; dann wieder kehrten wir nach Goat-Island zurück, um den großen Wasserfall nochmals von dieser Richtung aus zu sehen, und geriethen immer wieder in neues Entzücken und erneutes Staunen. Gar zu gern hätte mich der Doctor nach der »Grotte der Winde«, einer hinter dem Centralfall befindlichen Höhlung, geführt, zu der man auf einer Treppe gelangt, die an der Spitze der Insel hergestellt ist, aber der Zutritt zu der Grotte war damals untersagt, weil in letzter Zeit zu häufig Unglück durch Einstürze in dem bröcklichen Felsen vorgekommen waren.
    Um fünf Uhr kehrten wir nach Katarakt-House zurück, und nach einem eiligen Mahl, das auf amerikanische Art hergerichtet war, schlugen wir abermals den Weg nach Goat-Island ein, um noch ein wenig darauf herumzuwandern und die »drei Schwestern«, reizende Inselchen, die an der Spitze der Insel zerstreut liegen, aufzusuchen. Als dann die Dunkelheit kam, führte mich Pitferge wieder auf den Schüttelfels zum Terrapin-Tower.
    Die Sonne war hinter den Hügeln untergegangen und das letzte Tagesleuchten verschwunden, der Mond schimmerte, halb voll, in magischem Glanze, und die Schatten des Thurms verlängerten sich bis zum Abgrund. Stromaufwärts glitten die Gewässer in leichtem Nebel ruhig dahin, und das canadische Ufer contrastirte seltsam mit den erleuchteten Massen Goat-Islands und des Dorfes Niagara-Falls. Der Schlund zu unseren Füßen schien durch das Halbdunkel zu einem unendlichen Abgrund vergrößert, aus dem der Katarakt grauenerregend herausbrüllte. Der Eindruck, den ich hier zu dieser Stunde empfing, war unbeschreiblich; welcher Künstler würde dergleichen jemals mit Feder oder Pinsel auch nur annähernd wiedergeben können! Für kurze Zeit erschien ein bewegliches Licht am Horizont – es war das Leuchtfeuer eines Eisenbahnzuges, der, zwei Meilen von uns entfernt, über die Niagarabrücke hinwegging. Wir blieben bis Mitternacht schweigend und in Betrachtung versunken auf der Spitze des Thurms; immer wieder beugten wir uns über den Strom hinab und konnten uns nicht trennen von dem bezaubernden Anblick. In einem Augenblick, als die Mondstrahlen den flüssigen Staub unter einem gewissen Winkel trafen, sah ich einen Streifen, gleichsam ein weißes, durchsichtiges Band, das im Schatten hin-und herzitterte; es war ein Mondregenbogen, eine blasse Strahlung des Nachtgestirns, dessen sanfter Glanz sich zersetzte, indem es durch die Nebel des Katarakts hindurchfuhr.
Fußnoten
    1 Etwa 104 1/2 Meter.
Achtunddreißigstes Capitel.
Unerwartete Begegnung. – Ellen erwacht aus ihrem Tiefsinn.
    Für den folgenden Tag, den 13. April, hatte Pitferge’s Programm einen Besuch des canadischen Ufers

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