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Eine schwimmende Stadt

Eine schwimmende Stadt

Titel: Eine schwimmende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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machte an dieser Stelle eine scharfe Biegung und rundete sich ab, um den canadischen Fall, den sogenannten »Horse-Shoe-Fall«, zu bilden. Er stürzt aus einer Höhe von hundertundachtundfünfzig Fuß in einer Breite von zwei Meilen hernieder.
    Die Natur hat Alles gethan, um diesen Ort zum schönsten der Welt zu machen, und Licht und Schatten vereinigen sich hier, um die überraschendsten Wirkungen auf das Auge hervor zu bringen. Die Sonne erzeugt in launischem Spiel die verschiedenartigsten Farbeneffecte, deren Herrlichkeit jeder Beschreibung spottet, kurz, wer nicht selbst vor diesem Naturspiel gestanden hat, wird sich nie ein Bild von seiner Großartigkeit und Schönheit machen können. Der Schaum bei Goat-Island ist so weiß und flockig wie frisch gefallener Schnee, in der Mitte des Katarakts jedoch sind die Fluthen von köstlich meergrüner Farbe, von der man einen Schluß auf die Dicke der Wasserschicht ziehen kann. Der »Détroit«, ein Schiff mit zwanzig Fuß Tiefgang, ist einst diesen Fall hinab gefahren, ohne auf den Grund zu stoßen. Nach dem canadischen Ufer zu glitzern die Wasserwirbel in eigenthümlich metallischem Glanze unter den Lichtstrahlen, fast könnte man glauben, daß flüssiges, geschmolzenes Gold hinabfiele in die Tiefe. Der Fluß dort unten wird uns durch wirbelnde Dünste verborgen, aber mächtige, durch den Winter angehäufte Blöcke starren Eises schimmern zu uns herauf und scheinen ihrer Gestalt und Größe nach kolossale Ungethüme, die in ihren geöffneten Rachen so viel hundert Millionen Tonnen auffangen, wie hier mit jeder Stunde hernieder stürzen.
    Eine halbe Meile stromabwärts fließt der Strom wieder ruhig und bietet eine feste Fläche dar, welche die ersten Lüfte des April noch nicht haben schmelzen können.
    »Und jetzt mitten hinein in den Strom!« rief der Doctor.
    Ich wußte zuerst nicht, was er mit diesen Worten sagen wollte, bemerkte aber bald einen Aussichtsthurm, der ganz nahe am Abgrund, etwa hundert Fuß vom Ufer entfernt, erbaut ist; das Denkmal ist im Jahre 1833 von einem kühnen Mann Namens Judge Porter errichtet und heißt der, Terrapin Tower.
    Wir stiegen die Seitengelände von Goat-Island herab und sahen, als wir bei dem oberen Lauf des Niagara angekommen waren, eine Brücke oder eigentlich einige Bretter, die über Felsvorsprünge gelegt waren und Thurm und Ufer verbanden. Diese Brücke ging dicht an dem Abgrunde her, und darunter brüllte der Strom hinweg. Wir hatten uns auf die Bretter gewagt, in wenigen Augenblicken den Hauptblock, auf dem der Terrapin-Tower steht, erreicht und sahen nun, daß der Thurm etwa fünfundzwanzig Fuß hoch, rund und aus Stein aufgeführt ist; er hat einen kreisförmigen Balcon, der um seinen mit röthlichem Stuck bedeckten Dachstuhl läuft. Die Wendeltreppe ist aus Holz, und in ihr sind viele tausend Namen eingeschnitten. Oben angelangt, klammerten wir uns an das Balcongitter und schauten auf das gewaltige Chaos zu unseren Füßen hinab.
    Man blickt mitten in den Katarakt hinein und bis zu den großen Eisungeheuern hinunter, die in ihrem Rachen den Strom verschlingen; der Fels, auf dem der Thurm steht, erzittert, rings umher sieht man furchtbare Gruben, die der Strom ausgehöhlt hat, und kein Wort, das man spricht, wird von uns selber vor dem ungeheuren Brausen gehört, das wie ein fortwährendes Donnern alles Andere übertönt. Die flüssigen Linien rauchen und pfeifen wie dahinschnellende Pfeile, der Schaum spritzt bis hinauf zur Spitze des Denkmals, und das zu seinem, feuchtem Staub gewordene Wasser bildet in der Luft einen farbenglänzenden Regenbogen.
    Durch eine einfache Wirkung der Optik scheint es, als ob sich der Thurm mit äußerster Schnelligkeit von der Stelle bewegte, und zwar glücklicherweise von dem Wasserfall hinweg; wäre die Illusion entgegengesetzter Art, so würde der Schwindel so unerträglich sein, daß Niemand in den Schlund hinabsehen könnte.
    Als wir keuchend und wie zerschlagen einen Augenblick auf den obersten Absatz des Thurms hinausgetreten waren, glaubte Dean Pitferge den geeigneten Augenblick zu folgenden Worten gefunden zu haben:
    »Ja, ja, mein lieber Herr, es wird nicht lange dauern, dann liegt dieser Tower tief unten im Abgrund. Die Sache wird sich schneller ereignen, als man vermuthet!
    – Meinen Sie wirklich?
    – Gar keinem Zweifel unterworfen! Der große canadische Fall weicht immer mehr zurück, zwar unmerklich, aber es ist doch klar erwiesen; als der Thurm Anno 1833 erbaut wurde, war er

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