Eine skandalöse Versuchung
Situation durchaus beruhigend.
»Oh, Miss! Oh, Miss !«, jammerte Daisy ihr entgegen, als sie sie entdeckte. »Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich konnte überhaupt nichts für sie tun!« Sie schniefte und hielt sich das Geschirrtuch an die Augen, das die Köchin ihr in die Hand drückte.
»Aber, aber. Daisy.« Leonora wollte nach einem der Küchenstühle greifen; Tristan kam ihr zuvor, griff den Stuhl und stellte ihn direkt vor Daisy. Leonora setzte sich hin und spürte, wie Tristan seine Hände auf die Rückenlehne des Stuhls legte. »Du wirst Miss Timmins am meisten helfen, wenn du dich jetzt erst einmal etwas beruhigst, Daisy. Tief einatmen, so ist es gut. Und dann wirst du mir und Seiner Lordschaft, dem Earl, erzählen, was eigentlich genau passiert ist.«
Daisy nickte, holte gehorsam Luft und platzte dann hervor: »Zuerst hab ich heute Morgen nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ich bin von meinem Zimmer aus durchs hintere Treppenhaus nach unten gegangen, hab den Kamin sauber gemacht und das Feuer in der Küche angefacht, dann hab ich Miss Timmins’ Frühstückstablett fertig gemacht. Als ich es ihr bringen wollte …« Daisys große Augen
füllten sich mit Tränen. »Ich bin aus der Küche gegangen wie immer, hab das Tablett im Flur abgestellt, um mein Haar in Ordnung zu bringen, damit ich hübsch und ordentlich zu ihr hinaufgehen kann - und da hab ich sie gesehen.«
Daisys Stimme stockte und brach ab. Die Tränen quollen nur so hervor, sie versuchte hektisch, sie abzutrocknen. »Sie lag einfach so da; am Fuß der Treppe, wie ein kleiner toter Vogel. Ich bin natürlich sofort zu ihr hingerannt und hab nach ihr gesehen, doch es war alles vergebens. Sie war schon tot.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas; sie hatten Miss Timmins alle gekannt.
»Haben Sie sie berührt?«, fragte Tristan mit ruhiger, geradezu beruhigender Stimme.
Daisy nickte. »Ja. Ich hab ihre Hand und ihre Wange gestreichelt.«
»Und fühlte sich ihre Wange kalt an? Erinnern Sie sich daran?«
Daisy blickte mit nachdenklich gerunzelter Stirn zu ihm auf. Schließlich nickte sie. »Ja, Sie haben recht. Ihre Wange war kalt. Bei ihren Händen habe ich mir nichts dabei gedacht, sie waren immerzu kalt. Aber ihre Wange … Ja, sie war ungewöhnlich kalt.« Sie blinzelte Tristan an. »Heißt das, dass sie schon eine Weile tot war?«
Tristan richtete sich auf. »Es heißt, dass sie vermutlich schon mehrere Stunden tot war. Sie muss irgendwann in der Nacht gestorben sein.« Er zögerte kurz, dann fragte er: »Ist sie manchmal nachts umhergewandelt? Wissen Sie etwas davon?«
Daisy schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht mehr. »Nicht, dass ich wüsste. Sie hat nie etwas Derartiges erwähnt.«
Tristan nickte und trat einen Schritt zurück. »Wir werden uns um Miss Timmins kümmern.«
Sein Blick schloss Leonora mit ein. Sie war ebenfalls aufgestanden, doch nun wandte sie sich Daisy erneut zu. »Du bleibst am besten hier. Nicht nur tagsüber, sondern auch heute Nacht.« Sie bemerkte Neeps, den Kammerdiener ihres Onkels, der mit besorgtem
Blick bei ihnen stand. »Neeps, Sie können heute Nachmittag mit Daisy hinübergehen, um ihre Sachen zu holen.«
Der Mann verneigte sich. »Sehr wohl, Miss.«
Tristan bedeutete Leonora vorauszugehen; er folgte ihr aus der Küche. Jeremy erwartete sie in der Eingangshalle.
Er wirkte überaus blass. »Ist es wahr?«
»Ich fürchte, allem Anschein nach ja.« Leonora ging zum Garderobenständer und nahm ihren Mantel vom Haken. Tristan war ihr gefolgt; er nahm ihr den Mantel aus den Händen.
Er hielt das Kleidungsstück fest und sah sie an. »Es wird mir vermutlich nicht gelingen, dich davon zu überzeugen, mit deinem Onkel in der Bibliothek zu warten?«
Sie hielt seinem Blick stand. »Nein.«
Er seufzte. »Ich hatte es befürchtet.« Er legte ihr den Mantel über die Schultern, dann schob er seinen Arm an ihr vorbei, um die Haustür zu öffnen.
»Ich werde mit euch mitkommen.« Jeremy trat hinter ihnen zur Tür hinaus und folgte ihnen den geschwungenen Weg entlang.
Sie erreichten die Eingangstür von Miss Timmins’ Haus; Daisy hatte sie nur angelehnt. Sie öffneten sie und traten ein.
Das Bild, das sich ihnen bot, war annähernd so, wie Leonora es sich, Daisys Worten gemäß, ausgemalt hatte. Anders als in ihrem eigenen Haus mit der geräumigen Eingangshalle, in welchem die Treppe der Tür direkt gegenüberlag, hatte dieses Haus nur einen schmalen Flur. Der Kopf der Treppe lag oberhalb der Tür,
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