Eine Studie in Scharlachrot
Augen. Von ihnen allen kamen viele Rufe des Staunens und Mitleids, als sie die Jugend eines der Fremdlinge und den elenden Zustand des anderen sahen. Ihre Begleiter blieben jedoch nicht stehen, sondern drängten sich vorwärts, gefolgt von einer großen Menge Mormonen, bis sie einen Wagen erreichten, der durch seine Größe und sein elegantes, prunkvolles Äußeres auffiel. Sechs Pferde waren vor ihm ins Joch gespannt, wogegen die anderen Wagen mit zwei oder höchstens vier Tieren versehen waren. Neben dem Fahrer saß ein Mann, der nicht älter sein konnte als dreißig Jahre, aber sein gewichtiger Kopf und seine entschlossene Miene kennzeichneten ihn als Führer. Er las in einem braun eingebundenen Buch, das er jedoch bei der Annäherung der Menge beiseite legte, um einem Bericht über den Vorfall aufmerksam zu lauschen. Danach wandte er sich den beiden Verlorenen zu.
»Wenn wir euch mitnehmen«, sagte er feierlich, »dann nur als solche, die unseren Glauben teilen. Wir wollen keine Wölfe in unserem Pferch haben. Viel eher sollen eure Gebeine in dieser Wüstenei bleichen, denn daß ihr euch als jener kleine Fleck des Verfalls erweist, der mit der Zeit die ganze Frucht verdirbt. Wollt ihr zu diesen Bedingungen mit uns kommen?«
»Ich schätze, ich komme zu jeder Bedingung mit euch«, sagte Ferrier, mit solchem Nachdruck, daß die ernsten Ältesten ein Lächeln nicht unterdrücken konnten. Allein der Führer wahrte seine strenge, ehrfurchtgebietende Miene.
»Nimm ihn, Bruder Stangerson«, sagte er, »gib ihm Nahrung und Trunk, und desgleichen dem Kinde. Mach es dir ferner zur Aufgabe, ihn in unserem heiligen Glauben zu unterweisen. Wir haben uns lange genug aufgehalten! Vorwärts! Weiter, gen Zion!«
»Weiter, gen Zion!« rief die Menge der Mormonen, und die Worte rieselten den langen Treck hinab, gingen von Mund zu Mund, bis sie in der Ferne als dumpfes Gemurmel erstarben. Mit knallenden Peitschen und knarrenden Rädern setzten sich die großen Wagen in Bewegung, und bald wand sich der ganze Treck wieder fort. Der Älteste, dessen Fürsorge die beiden Heimatlosen anvertraut worden waren, führte sie zu seinem Wagen, wo bereits ein Mahl ihrer harrte.
»Ihr werdet hier bleiben«, sagte er. »In ein paar Tagen werdet ihr euch von eurer Mühsal erholt haben. Inzwischen denkt daran, daß ihr jetzt und für immer unserer Religion angehört. Brigham Young 27 hat es gesagt, und er hat mit der Stimme von Joseph Smith gesprochen, welche die Stimme Gottes ist 28 .«
9. Die Blume von Utah
Es ist hier nicht die Stelle, der Mühen und Entbehrungen zu gedenken, welche die wandernden Mormonen erlitten, bis sie endlich ihre Freistatt erreichten. Von den Ufern des Mississippi bis zu den westlichen Hängen der Rocky Mountains hatten sie sich mit einer Beharrlichkeit durchgekämpft, die in der Geschichte kaum ein Beispiel findet. Der wilde Mensch und das wilde Tier, Hunger, Durst, Erschöpfung, Krankheit – jedes Hindernis, das die Natur ihnen in den Weg legen konnte – waren mit angelsächsischer Zähigkeit überwunden worden. Und doch hatten die lange Reise und die vielfältigen Schrecken auch die Herzen der Stärksten unter ihnen erschüttert. Keiner unter ihnen, der nicht auf die Knie gefallen wäre, in innigem Dankgebet, als sie das weitläufige Tal von Utah unter sich liegen sahen, vom Sonnenlicht überspült, und aus dem Mund ihres Führers hörten, dies sei das gelobte Land und diese jungfräulichen Äcker sollten ihnen auf immerdar gehören.
Young erwies sich bald als geschickter Organisator sowie als entschlossener Kommandant. Karten wurden gezeichnet und Entwürfe angefertigt, auf denen man die künftige Stadt umriß. Allenthalben wurde Farmland unterteilt und den einzelnen Personen gemäß ihren Verdiensten zugewiesen. Der Händler widmete sich seinem Beruf und der Kunsthandwerker seiner Berufung. In der Stadt entstanden wie durch Zauber Straßen und Plätze. Das umliegende Land wurde entwässert, eingezäunt, bepflanzt und gerodet, und der folgende Sommer traf das ganze Land golden vom Weizen an. Alles gedieh in der seltsamen Ansiedlung. Über allem wuchs der große Tempel, den sie im Mittelpunkt der Stadt errichtet hatten, und wurde immer größer. Von der ersten Morgenröte bis zum Ende des abendlichen Zwielichts fehlten nie das Klirren des Hammers und das Reißen der Säge um dieses Monument, das die Einwanderer Ihm errichtet, der sie sicher durch viele Fährnisse geführt hatte.
Die beiden Verlorenen, John
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