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Eine Studie in Scharlachrot

Eine Studie in Scharlachrot

Titel: Eine Studie in Scharlachrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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den steilen Abhang, der zu jenem Gegenstand hinaufführte, welcher ihre Neugier erregt hatte. Sie gingen schnell und geräuschlos vor, mit dem Selbstvertrauen und der Geschicklichkeit erfahrener Scouts. Die Zuschauer auf der Ebene unter ihnen konnten sie von Felsen zu Felsen huschen sehen, bis ihre Gestalten sich vom Himmel abhoben. Der junge Mann, der als erster den Alarm ausgelöst hatte, führte sie an. Plötzlich sahen die, die hinter ihm kamen, wie er die Hände hob, als habe die Verblüffung ihn übermannt, und als sie zu ihm stießen, rührte der Anblick, der sich ihren Augen darbot, sie in gleicher Weise an.
    Auf dem kleinen Plateau, das den öden Hügel krönte, stand ein einzelner riesiger Felsblock, und an diesen Block gelehnt lag ein großer Mann mit langem Bart und harten Gesichtszügen, der aber überaus dürr war. Sein entspanntes Gesicht und die ruhigen Atemzüge zeigten, daß er tief schlummerte. Neben ihm lag ein kleines Kind, dessen rundliche, weiße Arme seinen braunen, sehnigen Hals umschlangen, und der goldene Schopf ruhte auf der Brust seines Manchester-Rocks. Die rosigen Lippen der Kleinen waren geöffnet und zeigten die ebenmäßigen Reihen schneeweißer Zähne, und auf ihren kindlichen Zügen lag ein verspieltes Lächeln. Ihre rundlichen, kleinen, weißen Beine in weißen Söckchen und sauberen Schuhen mit glänzenden Schnallen standen in seltsamem Gegensatz zu den langen, dürren Gliedmaßen ihres Gefährten. Auf der Felskante über diesem merkwürdigen Paar hockten drei feierlich dreinblickende Bussarde, die beim Anblick der Neuankömmlinge heisere Schreie der Enttäuschung ausstießen und mürrisch von hinnen flatterten.
    Die Schreie der üblen Vögel weckten die beiden Schläfer, die sich verwirrt umschauten. Der Mann kam schwankend auf die Füße und sah zur Ebene hinab, die so öde gewesen war, als der Schlaf ihn übermannt hatte, und die nun von dieser ungeheuren Masse von Menschen und Tieren überquert wurde. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck des Unglaubens an, während er stand und starrte, und er fuhr sich mit der knochigen Hand über die Augen. »Das ist wohl, was man Delirium nennt«, murmelte er. Das Mädchen stand neben ihm, hielt sich an seinem Rocksaum fest und sagte nichts, sah sich jedoch mit dem verwunderten, fragenden Blick der Kindheit um.
    Die Rettungstruppe konnte die beiden Verlorenen bald davon überzeugen, daß ihr Auftauchen keine Wahnvorstellung war. Einer von ihnen ergriff das kleine Mädchen und hob sie auf seine Schulter, während zwei andere ihren hageren Gefährten stützten und ihm zu den Wagen halfen.
    »Ich heiße John Ferrier«, erklärte der Wanderer. »Ich und die Kleine da sind alles, was von einundzwanzig Leuten übrig ist. Der Rest ist an Hunger und Durst gestorben, weiter im Süden.«
    »Ist sie Ihr Kind?« fragte jemand.
    »Das ist sie jetzt sicher«, rief der andere trotzig. »Sie ist mein Kind, weil ich sie gerettet habe. Niemand wird sie mir wegnehmen. Von heute an ist sie Lucy Ferrier. Wer sind Sie denn eigentlich?« fuhr er fort; er warf seinen kräftigen, sonnverbrannten Rettern neugierige Blicke zu. »Von euch scheint’s ja recht viele zu geben.«
    »An die zehntausend«, sagte einer der jungen Männer. »Wir sind die verfolgten Kinder Gottes – die Auserwählten des Engels Merona 25 .«
    »Von dem hab ich noch nie gehört«, sagte der Wanderer. »Er scheint ja eine nette Auswahl getroffen zu haben.«
    »Treib keine Scherze mit Heiligem«, sagte der andere streng. »Wir gehören zu denen, die an jene heiligen Schriften glauben, die abgefaßt in ägyptischen Zeichen auf Platten gehämmerten Goldes dem heiligen Joseph Smith in Palmyra ausgehändigt wurden. Wir kommen aus Nauvoo im Staat Illinois 26 , wo wir unseren Tempel gegründet hatten. Wir sind gekommen, um Zuflucht vor dem Gewalttätigen und dem Gottlosen zu suchen, und wenn es auch im Herzen der Wüste wäre.«
    Der Name Nauvoo schien bei John Ferrier offenbar Erinnerungen zu wecken. »Ach so«, sagte er, »ihr seid die Mormonen.«
    »Wir sind die Mormonen«, antworteten seine Gefährten wie aus einem Munde.
    »Und wohin geht ihr?«
    »Das wissen wir nicht. Die Hand Gottes fuhrt uns in der Person unseres Propheten. Sie müssen zu ihm kommen. Er wird sagen, was wir mit Ihnen machen sollen.«
    Inzwischen hatten sie den Fuß des Hügels erreicht und waren von Pilgergruppen umgeben – blaßgesichtige Frauen mit demütiger Miene; kräftige, lachende Kinder; besorgte Männer mit ernsten

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