Eine Studie in Scharlachrot
Ferrier und das kleine Mädchen, das sein Schicksal geteilt hatte und als seine Tochter angenommen worden war, begleiteten die Mormonen ans Ende ihrer großen Pilgerreise. Die kleine Lucy Ferrier reiste sehr angenehm im Wagen des Ältesten Stangerson, einer Unterkunft, die sie mit den drei Frauen des Mormonen und seinem Sohn teilte, einem starrköpfigen, vorwitzigen Jungen von zwölf Jahren. Nachdem sie mit der Anpassungsfähigkeit der Kindheit den Schock des Todes ihrer Mutter überwunden hatte, wurde sie bald zum Liebling der Frauen und gewöhnte sich an dieses neue Leben in ihrem planenbedeckten, beweglichen Heim. Inzwischen zeichnete sich Ferrier, von seinen Entbehrungen erholt, als nützlicher Scout und unermüdlicher Jäger aus. So rasch gewann er die Wertschätzung seiner neuen Gefährten, daß man sich, als das Ende der Wanderschaft erreicht war, einmütig darauf einigte, ihm ein so großes und fruchtbares Landstück wie jedem anderen Siedler zuzuteilen, ausgenommen Young selbst sowie Stangerson, Kemball, Johnson und Drebber, die die vier wichtigsten Ältesten waren.
Auf der so erworbenen Farm baute John Ferrier ein festes Holzhaus, das in den folgenden Jahren viele Anbauten erfuhr, so daß es zu einer geräumigen Villa wuchs. Er war ein Mann mit praktischen Veranlagungen, vernünftig in seinen Unternehmungen und geschickt mit den Händen. Seine eiserne Konstitution erlaubte es ihm, vom Morgen bis zum Abend sein Land zu bessern und zu bearbeiten. So kam es, daß die Farm und all sein Besitz außerordentlich gut gediehen. Nach drei Jahren ging es ihm besser als seinen Nachbarn, nach sechs war er wohlhabend, nach neun reich, und nach zwölf Jahren gab es nicht einmal ein halbes Dutzend Männer in ganz Salt Lake City, die sich mit ihm messen konnten. Vom großen Binnensee bis zu den fernen Wasatch-Bergen war kein Name bekannter als der von John Ferrier.
Es gab eines, und nur dieses eine, womit er die Empfindungen seiner Glaubensgenossen verletzte. Weder Argumente noch Überredungsversuche konnten ihn je dazu bringen, sich nach Art seiner Gefährten mit Frauen zu umgeben. Er gab für diese beharrliche Weigerung niemals Gründe an, sondern beschränkte sich darauf, entschieden und unbeugsam dieser seiner Entschlossenheit anzuhangen. Manche ziehen ihn der Lauheit gegenüber seiner angenommenen Religion, andere schoben es auf Gier nach Reichtum und Abneigung gegen Ausgaben. Wieder andere sprachen von einer frühen Liebschaft und einem blondhaarigen Mädchen, das am Gestade des Atlantik dahingeschmachtet war. Welchen Grund er auch immer haben mochte, Ferrier blieb strikt zölibatär. In jeder anderen Hinsicht hielt er sich an die Religion der jungen Ansiedlung und erwarb den Ruf eines orthodoxen und rechtschaffenen Mannes.
Lucy Ferrier wuchs im Holzhaus auf und ging ihrem Adoptiv-Vater bei all seinen Unternehmungen zur Hand. Die frische Luft der Berge und der balsamische Duft der Nadelbäume nahmen bei dem jungen Mädchen die Stellen von Amme und Mutter ein. Mit den Jahren wurde sie größer und kräftiger, ihre Wangen frischer und ihr Gang federnder. Mancher Fahrensmann auf der Straße, die an Ferriers Farm entlanglief, spürte langvergessene Gedanken in seinem Gemüt aufleben, wenn er ihre geschmeidige Mädchengestalt durch die Weizenfelder streifen sah oder ihr begegnete, wenn sie auf ihres Vaters Mustang ritt, den sie mit all der Leichtigkeit und Anmut eines echten Kindes des Westens zu behandeln wußte. So blühte die Knospe zu einer Blume auf, und in dem Jahr, da ihr Vater der reichste Farmer wurde, war sie das schönste Beispiel amerikanischen Mädchentums, das sich im pazifischen Teil des Kontinents nur finden ließ.
Es war jedoch nicht der Vater, der als erster entdeckte, daß das Kind sich zu einer Frau entwickelt hatte. Das ist in solchen Fällen auch selten. Diese geheimnisvolle Verwandlung ist zu subtil und allmählich, als daß sie in Daten gemessen werden könnte. Am wenigsten von allen weiß es die Maid selbst, bis der Tonfall einer Stimme oder die Berührung einer Hand ihr Herz aufwühlt und sie mit einer Mischung aus Stolz und Furcht erfahrt, daß in ihr ein neues und größeres Sein erwacht ist. Nur wenige gibt es, die sich dieses Tages nicht entsonnen und sich nicht an jenen einen kleinen Vorfall zu erinnern vermöchten, der den Morgen eines neuen Lebens ankündigte. In Lucy Ferriers Fall war dieser Vorfall an sich schwerwiegend genug, nicht zu reden von seinen künftigen Auswirkungen auf ihr
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