Eine Sünde zuviel
Provisor vom Nachtdienst war im Laden und bediente einen Kunden … es war die beste Gelegenheit, durch den Flur ins Labor zu huschen, den Schlüssel für die Dielentür wegzunehmen und über den Stichflur ins Wohnhaus zu rennen.
Nun stand Dahlmann vor der Wohnungstür und schloß ganz langsam und leise auf. Er zog hinter sich die Tür wieder zu, horchte am Zimmer des Hausmädchens, hörte sie tief im Schlaf atmen, schlich weiter zum Schlafzimmer und zog vorsichtig die Tür auf.
Auch Luise schlief fest, auf die Seite gedreht. Ihr Atem war regelmäßig und ruhig. Leise öffnete Dahlmann den Schrank, nahm einen Anzug heraus, Unterwäsche, ein Oberhemd, Krawatte, Strümpfe und Schuhe, ging ins Bad und packte sein Rasierzeug zusammen, trug das Bündel hinaus in die Diele und legte es auf einen Stuhl. Dann begann auch er zu suchen, aber planmäßig, nach kurzer Überlegungspause.
Wo hebt man einen Anzug auf, den man zur Reinigung bringen will, dachte er. Und wenn er schon weggebracht ist … wo legt man den Tascheninhalt hin?
Nach dreimaligem vergeblichem Nachsehen im Bad, im Schlafzimmer und in der Küche fand er in der Besenkammer seinen blutverschmierten Anzug. Er ließ alles in den Taschen, nur die Brieftasche steckte er in den Bademantel. Dann rannte er zurück zu seinem Kleiderhaufen, packte ihn unter den Arm, verließ die Wohnung, schloß wieder ab und ging zum wartenden Taxi zurück. Der Fahrer krauste zwar die Stirn, aber er fragte nicht. Verrückte gibt's überall, dachte er. Der da kommt aus dem Krankenhaus und holt in der Nacht seine Klamotten … was geht's mich an?! Diese Ansicht vertrat er besonders, als Dahlmann ihm vor dem Krankenhaus aus der Brieftasche einen Zwanzigmarkschein in die Hand drückte und dazu sagte: »Ist gut so … aber Mund halten, Kumpel!«
Da dies alles schnell ging, bemerkte Dahlmann nicht das Fehlen der Schecks in der Brieftasche. Außerdem lagen die Geldscheine in einem Nebenfach.
Durch den Garten schlich er wieder zurück zu seinem Zimmerfenster, warf die Kleider in das Zimmer und kletterte ächzend und mit starken Schmerzen in der Brust hinterher. Dann saß er eine Zeitlang keuchend auf dem Bett und unterdrückte einen in der Brust bohrenden Husten.
Gewonnen, dachte er bloß. Ich habe das Rennen gewonnen. Morgen spaziere ich aus dem Krankenhaus, gehe zur Bank, löse die Schecks ein und fahre mit dem nächsten Zug nach Basel. Ehe sie merken, was geschehen ist, bin ich über die Grenze. Mit sechzigtausend Mark! Ein freier Mann!
Er war so froh bei dem Gedanken, daß er leise vor sich hin pfiff, die Kleidung in den schmalen weißen Schrank räumte und sich zufrieden ins Bett legte.
Bei der zweiten Nachtrunde fand Schwester Innozenzia ihren verlorengegangenen Patienten Dahlmann wieder im Bett vor. Er schlief fest und selig lächelnd.
»Saufloch!« sagte Schwester Innozenzia und verließ wütend und doch erleichtert das Zimmer.
Dahlmann aber träumte vom Süden, von Palmen und blauem Meer, von weißen Segeln und hübschen, langbeinigen Mädchen. Und sie alle hatten das Gesicht von Monika … aber das störte seinen Traum nicht … er war viel zu glücklich –
Am nächsten Morgen, gleich nach der Visite, zog er sich an.
Das neue Leben konnte beginnen.
Es fiel nicht auf, daß er das Krankenhaus verließ. Die Stationsschwester machte mit der Schwesternhelferin in einem anderen Zimmer die Betten, die Pfortenschwester ließ ihn passieren, ohne ihn überhaupt anzusehen … er war für sie ein früher Besucher, wahrscheinlich von der Entbindungsstation. In der Nacht waren sechs Kinder geboren worden.
Vor dem Krankenhaus nahm Dahlmann wieder ein Taxi und ließ sich zur Bank fahren. Er war in fröhlicher Stimmung, lehnte sich weit in die Polster zurück und fühlte sich so losgelöst und glücklich wie selten in seinem Leben. Auch wenn er nur einen Teil dessen erreicht hatte, was sich ihm geboten hätte, wenn die widrigen Verwicklungen nicht dazwischengekommen wären, hatte er doch das Empfinden, endlich ein freier Mensch zu sein.
Was beginnt man mit sechzigtausend Mark, dachte er, als das Taxi aus der stillen Vorstadt, in der das Krankenhaus lag, hinein in den lärmenden Vormittagsverkehr Hannovers glitt. Zunächst wird man sich ausruhen von den Strapazen, liebender Ehemann einer Blinden zu sein und anders zu sprechen, als man handelt.
Ausspannen und nichts tun. Einen Monat lang. Vielleicht auf Ischia oder Mallorca, faul am Strand liegen, mit den Fingern im heißen Sand
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