Eine Sünde zuviel
zurückzulegen.
Sie saß über eine Stunde vor dem Fenster, die Brieftasche in der Hand, und rang mit sich. Sie rief ihre Vernunft an und verlor den Ruf an den drängenden Gedanken: Hier wirst du Beweise finden. Wenn es einen Ort gibt, wo du etwas entdecken kannst, dann ist es diese Brieftasche! Du mußt sie ansehen, du mußt Licht machen, du mußt auf alle Gefahren hin, die daraus erwachsen, sehen können, lesen können. Und wenn es das Opfer deiner Augen ist … jetzt, jetzt kannst du nicht anders handeln …!
Sie legte die Brieftasche geöffnet auf die Fensterbank und ergriff die Jalousiegurte. Noch einmal zögerte sie, griff nach der schwarzen Brille, setzte sie auf und sah, daß es wieder tiefe Nacht war. Da riß sie die Brille herunter, krallte die Finger in den Gurt und zog …
Die Jalousie rollte sich knirschend hoch. Ein Spalt verbreiterte sich, Licht fiel auf die Fensterbank … Luise blinzelte – so gedämpft das Abendlicht auch war, es blendete unerträglich, sie spürte einen stechenden Schmerz bis in die Haarwurzeln, quer durch das Gehirn … dann sah sie, las sie, erkannte sie die Papiere, als würden sie von einem grellen Scheinwerfer angestrahlt.
Ein paar Briefe von pharmazeutischen Fabriken … eine Geldanweisung aus Südamerika … drei Bankauszüge mit zusammen 61.796,43 Mark … Dahlmann hatte die Summe ausgerechnet und auf einen Auszug geschrieben … und dann die Blankoschecks … ohne Datum … Barschecks, mit der Unterschrift Luise Dahlmann.
Luise erkannte, daß es keine Fälschung war. Es waren alte Schecks, die sie unterschrieben hatte, als sie noch voller Vertrauen und mit der hingebenden Liebe der Blinden an ihrem Mann hing. Schecks, die Dahlmann bis jetzt mit sich herumgetragen hatte, ohne sie zu benutzen. Schecks, und das begriff Luise sofort, die Dahlmann ein neues Leben öffnen würden, wenn er sie mit der nötigen Summe einlöste. Mit über 61.000 Mark. Was sie jetzt in der Hand hielt, war das Ziel Ernst Dahlmanns – sie wußte es, ohne nachzudenken. Ein Ziel, das der Unfall nur verschoben hatte.
Luise nahm die Schecks an sich, klappte die Brieftasche zu und ließ die Jalousie herunterfallen. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und faltete die Hände.
Verzeih mir, mein Gott, dachte sie plötzlich. Ich habe dich herausgefordert … aber es war keine Sünde, es mußte sein … In diesen wenigen Sekunden ist Ernst Dahlmann vernichtet worden –
Sie trug die Brieftasche zurück in die Kammer, steckte sie wieder in den Rock und faltete die Blankoschecks zu einem kleinen Häufchen zusammen. Dann suchte sie weiter im Schlafzimmer … aber dieses Mal war es kein planloses Herumtasten, sondern die Suche ging nach einem bestimmten Gegenstand, von dem sie geglaubt hatte, ihn nie gebrauchen zu können.
Der alte Apotheker Horten hatte einmal seinen Töchtern ein altmodisches Ding geschenkt, als sie so groß waren, daß sie mit der Schule Ausflüge und kleine Reisen unternahmen. Damals hatten Luise und Monika dankend das Geschenk angenommen, sich heimlich angesehen und gedacht, daß der Vater doch schon in einer Welt lebte, die mit der modernen nichts mehr gemeinsam hatte. Dann hatten sie das Geschenk weggelegt, aber nie weggeworfen, weil es eine Erinnerung an den Vater war. Nun kam das Geschenk endlich zu Ehren, allerdings anders, als es sich der alte Horten gedacht hatte.
Es war ein kleiner, lederner Brustbeutel mit einer gedrehten Kordel. Damals sollten die Hortentöchter darin ihr Taschengeld aufbewahren. »Ein Portemonnaie verliert man oft … aber was einem um den Hals hängt, kann man nicht vergessen …« Das hatte der alte Horten gesagt – nun sollte der nie gebrauchte Brustbeutel zum sichersten Versteck für Luise werden.
In einem Kasten mit Jugenderinnerungen fand sie endlich die lederne, kleine Mappe. Sie steckte die zusammengefalteten Schecks hinein, legte die Kordel um den Hals und verbarg den Beutel auf ihrer Brust.
Ein Gefühl des Triumphes durchrann sie … aber gleichzeitig auch eine bedrückende Traurigkeit. Alles, was sie an Illusionen von Liebe, Ehe, Treue, Glück, Zukunft und Erfüllung gehabt hatte, war gestorben. Übrig blieb eine nackte Welt, grausam und gnadenlos, die auch die Gegenwart Robert Sandens noch nicht wieder mit Liebe und Geborgenheit ausfüllen konnte. Der Fall aus dem Himmel der Ideale in die Hölle der Wirklichkeit war so tief, daß Luise Dahlmann sich wie ausgeleert vorkam, wie eine Hülle, die ein Nichts umschloß. Alles, was
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