Eine Sünde zuviel
Mark.«
Dann war Dahlmann wieder allein. Die Schwester kam, rückte den Stuhl wieder an die Wand und legte drei rosa Pillen auf den Nachttisch.
»Haben Sie noch einen Wunsch, Herr Dahlmann?« fragte sie freundlich.
»Ja, Schwester. Ruhe! Völlige Ruhe!« Dahlmann sank ins Bett zurück. »Vor allem vor so greulichen Menschen, wie es dieser widerliche Faber ist –«
*
Jeden Tag, wie er versprochen hatte, sah Robert Sanden nach, wie es Luise Dahlmann ging. Fräulein Pleschke sorgte rührend für sie … es hatte sich nach außen hin ja nichts geändert, das Leben einer Blinden ging weiter wie bisher, mit Radio, mit Schallplatten, mit Tonbändern, mit Vorlesen, mit Blindenschriftüben, mit tastendem Gehen. Nur für Luise war es eine fast unerträgliche Belastung, blind zu sein und zu wissen, daß sie sehen konnte.
Daß sie ihren Mann im Krankenhaus nicht besuchte, fiel nicht auf. Sie schützte Augenschmerzen vor oder Übelkeit; nur wenn sie dann allein war, wurde sie unruhig und litt unter der Untätigkeit, zu der sie verurteilt worden war.
Nach drei Tagen Herumsitzens durchbrach sie zum erstenmal das Verbot Professor Siris. Sie konnte einfach nicht anders, sie war kein Übermensch. Aber sie wählte die Nacht dazu, ließ alle Jalousien herunter und nahm die Augenklappen erst ab, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das Dunkel in der Wohnung fast der Nacht glich, in der sie leben mußte. Der kaum wahrnehmbare Schimmer Licht aber, der durch die Jalousien glitt, genügte, die Gegenstände zu erkennen und sich sicher zu bewegen.
Sie suchte etwas. Sie wußte nicht, was es sein sollte, aber sie hatte den unbändigen Drang, systematisch alles durchzuwühlen … jede Schublade, jeden Winkel der Wohnung.
Bei dieser Suche stieß sie am fünften Tag auf ein Anzugknäuel. Es war der blutverschmierte Anzug Dahlmanns, den er bei dem Unfall getragen hatte. Das Krankenhaus hatte ihn in die Wohnung bringen lassen, nachdem die Polizei ihn freigegeben hatte. In dem Anzug waren alle Wertsachen, die Dahlmann an diesem Tage bei sich getragen hatte … die Schlüssel, eine Zigarettendose, ein Feuerzeug, ein silberner Kugelschreiber, Taschentücher, die Führerscheintasche und seine Brieftasche.
Luise Dahlmann trug die Brieftasche aus der Besenkammer, in die das Hausmädchen den Anzug gelegt hatte, um ihn später zur Reinigung zu geben, hinüber ins Wohnzimmer.
Sie setzte sich ans Fenster und hielt die Krokoledertasche gegen den schwachen Lichtschimmer, der durch die Jalousien fiel. Aber er war so schwach, daß sie nur die Umrisse erkennen konnte … die Briefe und Zettel, die in ihr lagen, waren unkenntlich, sie knisterten nur zwischen ihren Fingern.
Noch nie hatte Luise Dahlmann die Brieftasche ihres Mannes in der Hand gehabt. Es war ihr bisher nie der Gedanke gekommen, dort zu kontrollieren, wo ein Mann seine Geheimnisse aufzubewahren pflegt. In den Jahren ihrer glücklichen Ehe hätte sie das als einen unverzeihlichen Vertrauensbruch angesehen … so etwas tut man einfach nicht, hatte sie einmal im Freundinnenkreis gesagt, als die Rede darauf kam, daß man die Männer heimlich kontrollieren sollte. Vertrauen ist das Fundament einer Ehe … ja, Vertrauen ist fast noch wichtiger als Liebe.
Später dann hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, an Dahlmanns Brieftasche heranzukommen. Zweimal hatte sie es in der Nacht versucht … aber der Rock war leer, und Zeit zu suchen, wo er die Brieftasche hingelegt hatte, bekam sie nicht durch die Angst, er könne plötzlich erwachen und erkennen, daß sie sehen konnte.
Nun hielt sie die Brieftasche in der Hand, und sie war verurteilt, den Inhalt nicht im Hellen sehen zu können.
Luise zögerte lange. Sie starrte gegen das Fenster und die das Licht abschließende Jalousie.
Nur ein paar Sekunden, dachte sie. Ein kleiner Ruck, ein Spalt Licht, ein schnelles Durchblättern der Papiere … und dann wieder Dunkelheit. Diese wenigen Sekunden konnten keine Komplikationen auslösen, sie würden die Sehnerven nicht belasten … sie durften es einfach nicht …
Aber dann hörte sie die Worte Professor Siris und Dr. Savianos wieder. »Jeder Lichtstrahl kann uns um Wochen zurückwerfen! Seien Sie stark … stark … stark …«
Luise umklammerte die Brieftasche. Wie kann ich stark sein, dachte sie. Wie kann ich jetzt noch stark sein?! Jeder muß begreifen, daß ich jetzt Licht brauche. Jeder wird es mir verzeihen. Jeder wird doch einsehen, daß es unmöglich ist, die Brieftasche ungelesen wieder
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