Eine Sünde zuviel
es festhalten, ganz fest, damit es nicht auseinanderbricht – Die Räder unter ihr kollerten und kreischten. Der Zug raste nach Süden.
In die Sonne. In ein neues Licht?
Mit beiden Händen strich sich Ernst Dahlmann die verwehten Haare aus dem Gesicht, ordnete seinen Schlips, tupfte mit dem Taschentuch ein paar Schweißperlen von der Oberlippe – die kurze Strecke, die er neben dem Fenster hergelaufen war, hatte ihn mehr angestrengt, als er wahrhaben wollte, denn mit zweiundvierzig Jahren ist man ja kein alter Mann, den vierzig Meter Lauf außer Atem kommen lassen – und ging dann mit bewußt federnden Schritten vom Bahnsteig in die große Bahnhofshalle. An einem Erfrischungsbüfett trank er einen Kognak; er spürte, wie gut er ihm tat, wie er sich fast tröstend auf das aufgewühlte Innere legte und das Prickeln etwas dämpfte, das ihn bis hinein in die Finger- und Zehenspitzen befallen hatte.
Monika, dachte er. Man darf sich gar nicht vorstellen, was werden wird, wenn Luise zurückkommt. Wir werden uns so aneinander gewöhnt haben, daß die schrecklichsten Wünsche uns belasten und verfolgen werden.
Er zwang sich, nicht weiter an solche Dinge zu denken. Treiben lassen … das ist es … dem Augenblick leben, der Stunde, die man fassen kann … mitnehmen, was sich den Händen anbietet, was sie greifen können, was ihnen nicht entgehen kann … und nicht denken … niemals denken … nicht vom Mittag zum Abend, nicht zum nächsten Tag, nicht in die Zukunft. Der Augenblick allein ist wichtig, der Herzschlag, der gerade schlägt, das Erleben, in dem man versinkt –
In dem großen Blumengeschäft der Bahnhofshalle kaufte er einen dicken Strauß gelber Rosen. Moni liebte sie, mehr als rote Rosen. In dem Gelb ist die Sonne, sagte sie. Dahlmann fand diese Personifizierung wunderbar. Was er früher nie geglaubt hatte, erlebte er jetzt mit einem Gefühl von Seligkeit: Er schwelgte im Romantischen und sah die Wolken rosarot oder apfelsinenfarbig, wenn Moni sie so sah.
In ihrem Atelier unter dem Dach des hohen Apothekenbaues wartete Monika Horten auf die Rückkehr Dahlmanns. Sie hatte sich zwingen wollen, weiterzuarbeiten … aber es ging einfach nicht. Immer wieder sah sie auf die Uhr neben der Couch … jetzt stehen sie auf dem Bahnsteig … jetzt steigt sie in den Zug, jetzt fährt er ab … und jetzt sind wir allein … zwei Menschen, die wissen, wie gemein, wie schuftig ihre Liebe ist, und die doch nicht dagegen ankönnen, die sich treiben lassen, weil es nicht anders geht, weil ihnen die Kraft fehlt, nein zu sagen, nein zu einer Sünde, die zuviel ist … Zwei Menschen, die es zueinander treibt wie das Eisen zum Magneten, die ein Naturgesetz sind von solcher Mächtigkeit, daß alle Hemmungen fallen wie welkes Laub, die keine Gedanken mehr haben, keine Reue, keine Moral, keinen Glauben als nur das eine … du … du … nur du … und sonst nichts auf dieser Welt –
Sie kauerte vor der Staffelei, starrte auf das halbfertige Plakat und zog die schmalen Schultern hoch. In ihr fröstelte es trotz des heißen Tages. Sie hatte Angst. Wilde Angst vor den kommenden Wochen, vor Ernst Dahlmann, vor sich selbst und dem nicht bezwingbaren Wissen, daß sie unvorstellbar glücklich sein würde im völligen Vergessen. Sie spürte die Hörigkeit, in die sie hineintrieb, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, weil sie es als Glück empfand.
Als sie Ernst Dahlmanns Schritte auf der Treppe hörte, schnelle, laufende Schritte, die zwei Stufen auf einmal nahmen, fuhr sie aus der hockenden Stellung auf und rannte zum Fenster. Ihr goldblondes Haar leuchtete auf unter den breiten Glasscheiben, und Dahlmann blieb wie geblendet stehen, als er die Tür aufriß und die gelben Rosen hoch emporhielt.
»Moni –«, rief er. Es klang wie ein Jubelschrei. Dann atmete er tief auf und senkte den Blumenstrauß. »Wie herrlich du bist –«, sagte er leise. »Bitte, bleib so stehen … vor dem Fenster, gegen die Sonne … Es ist, als scheine sie durch dich hindurch, als seist du aus feinstem Porzellan … Moni, ich liebe dich unsäglich –«
»Wie … wie ist sie weggefahren …?«
»Glücklich.«
»Du hast sie geküßt?«
»Natürlich.«
»Hast du nie daran gedacht, wie gemein wir sind?«
»Nein.«
»Wie niederträchtig! Wie abscheulich! Wie verworfen! Oh – dafür gibt es überhaupt gar kein Wort …«
»Wir lieben uns … das ist das einzige Wort, das zwischen uns Gültigkeit hat.« Ernst Dahlmann kam auf sie zu. Die Rosen
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