Eine Sünde zuviel
ein Kollege von ihm, als er einen Operationsbericht aus der Bologneser Klinik Santa Anna las. Und Siri, dem man diesen Ausruf zutrug, antwortete prompt: »Nehmen Sie an, ich sei bloß ein Verrückter!«
In seiner Klinik war er ein König, ein uneingeschränkter Souverän. Wenn er mit seiner weißen Haarmähne, mit hin und her pendelnden Armen, schnellen, kleinen Schritten und einem zu kurzen Arztkittel durch seinen Palazzo rannte, von Zimmer zu Zimmer, überall Aufregung verbreitend, weil er in jedem Zimmer immer etwas fand, was nach seiner Ansicht nicht richtig war, dann war es wirklich wie in der Renaissance, wo ein scharfer Blick des Fürsten gleichbedeutend mit einer Hinrichtung war.
Diese Chefvisiten, jeden Tag einmal gegen elf Uhr vormittags, gehörten zu den Alpträumen der Ärzte und Schwestern. Aber so sehr und so oft sie auch angebrüllt wurden und sich in den südländischen Schimpfworten einrollen konnten, bisher hatte keiner der Ärzte und Schwestern freiwillig die Clínica St. Anna verlassen, es sei denn, Professor Siri hatte jemanden einfach hinausgeworfen. Wer bei Siri arbeitete, lebte mitten in einem Mekka der Medizin. Er schluckte alles, was man ihm an den Kopf warf, denn was man später am OP-Tisch erlebte, ließ alles vergessen. Bremsbock aller Meinungen und Wünsche war dabei Dr. Giulio Saviano, der Oberarzt Siris, ein kleiner, temperamentvoller, ungemein begabter Süditaliener, der vor Tatendrang sprühte und als einziger es wagte, zu Siri zu sagen: »Professore … wenn ich eine Meinung haben dürfte …« Und ab und zu durfte er sogar …
Luise Dahlmann war eine Stunde vor der festgesetzten Zeit in der Clínica St. Anna. Weder Dr. Saviano und erst recht nicht Professor Siri waren zu sprechen … ein junger Assistenzarzt lotste sie durch den Palazzo bis zur Augenstation II, wo eine hübsche, schwarzgelockte Schwester auf sie zukam, ein süßes Bild in Weiß.
»Das ist Schwester Angelina …«, sagte der junge Arzt in einem holprigen Deutsch. »Buon giorno, signora …«
»Kommen Sie, signora.« Schwester Angelina nickte Fräulein Pleschke zu und faßte Luise unter. »Wir haben Sie erwartet. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Der Herr Professor wird nach der Visite mit Ihnen sprechen …«
Luise blieb stehen. Der typische Geruch eines Krankenhauses fehlte völlig … im Gegenteil, es roch nach Blumen, nach Mimosen, Kamelien, Rosen.
»Sie muß schön sein, diese Klinik«, sagte sie und drehte den Kopf, als könne sie alles sehen … die breiten Flurfenster, den Park, die Wasserspiele, den wolkenlosen, blauen, vor Sonne kochenden Himmel.
»Sie werden bald alles sehen, signora«, sagte Schwester Angelina zuversichtlich.
»Sie sprechen gut deutsch, Schwester.«
»Ich habe zwei Jahre in Heidelberg studiert, signora.«
Während Fräulein Pleschke und Schwester Angelina die Koffer auspackten und alles in die eingebauten Schränke räumten, saß Luise am Fenster und lauschte auf das Plätschern der Wasserspiele. Aus dem Park klang Lachen zu ihr hinauf, fröhliche Stimmen, das Knirschen laufender Schritte. Von irgendwoher, aus einem Fenster oder weitab im Park, hörte sie Musik. Italienische Lieder von Liebe und Wein, zwei Dinge, ohne die ein Italiener trübsinnig würde.
Ich werde bald das alles sehen, dachte Luise und faltete die Hände im Schoß. Ich werde wieder sehen, wie schön das Leben ist. Alles war damals so selbstverständlich, man nahm es hin, man beachtete es gar nicht … einen blühenden Baum, eine im Wind sich wiegende Knospe, das Grün eines Rasens, eine weiße Mauer mit Efeu, das Gefieder eines Vogels … Wie herrlich, wie ein erfülltes Wunder wird dies alles, wenn man wieder auftaucht aus einer Nacht, in der die Welt nichts war als eine schwarze Wand, gegen die die Geräusche prallten.
Um halb zwölf Uhr kam Professor Siri ins Zimmer.
Hineinkommen war eigentlich nicht der richtige Begriff. Jemand riß die Tür auf, stürmte ins Zimmer und brüllte mit heller Stimme: »Es zieht! Angelina … auch wenn Sie Engel heißen, verbiete ich Ihnen so viel Luftzug, daß wir alle fliegen lernen!« Dann war es einen Atemzug lang still, Professor Siri sah auf Luise, die den Kopf zu ihm gedreht hatte, wandte sich dann zu Dr. Saviano um und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Wer ist denn das?«
»Signora Luise Dahlmann aus Hannover. Sie wissen, Herr Professor, daß wir –«
»Ach so! Natürlich! Für heute bestellt?«
»Ja.«
»Säureverbrennung der Cornea beider Augen,
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