Eine Sünde zuviel
nicht durch gesunde auswechseln. Überleg dir doch, was du da sagst –«
»Sie steht vor dem Spiegel und kämmt sich …«, keuchte Monika. »So kann sich nur einer kämmen, der sieht –«
»Luise hat einen phantastischen Tastsinn entwickelt. Du weißt, wie sicher sie durch das Haus geht. Nirgendwo stößt sie mehr an … sie muß den Radarsinn einer Fledermaus haben –«
Dahlmann fand diesen Vergleich schön. Er ertappte sich überhaupt in der letzten Zeit dabei, geistreich zu sein. Luise hatte früher immer eine Art maliziöses Lächeln um die Mundwinkel, wenn er in Gesellschaft Konversation machte und mit Bonmots brillierte. Das irritierte ihn, bis er seine Art weitgehend eindämmte, mit Charme zu wirken. Ein Gefühl von Unsicherheit war von da an in ihm, ein Teil Minderwertigkeitskomplex, der an der Seite Luises immer dann stark wurde, wenn alle Welt sie umschwärmte, ihr Komplimente machte, ihren Fleiß lobte und ihn, den Ehemann, als Inventar der Apotheke in Kauf nahm. Das war nun anders geworden. Der Mittelpunkt war er! Seit über einem Jahr entwickelte sich die Mohren-Apotheke zu einem Großbetrieb. Man sah den Fleiß und das Können des Ernst Dahlmann und man lachte jetzt auch über die geistreichen Blödeleien, mit denen er seine Reden würzte.
»Ich habe Angst –«, sagte Monika leise. »Mir wird es unheimlich in ihrer Nähe …«
»Wenn es dich beruhigt … ich werde einmal nachsehen.« Dahlmann sah auf den Bildschirm. Ein Politiker weihte eine neue Straße ein. Fahnen wehten, eine Schere wurde angereicht, Großaufnahme: ein dicker, lächelnder Ministerkopf. Hurra! »Überleg doch mal, Moni«, sagte Dahlmann noch einmal. »Wodurch soll sie sehen können? Durch die Luft in Montreux? Denk doch mal logisch –«
Er trat hinaus auf die Zentraldiele. Luise kam in diesem Augenblick aus dem Schlafzimmer. Wie alle Blinden ging sie sehr gerade, auf die Geräusche ihrer Umgebung lauschend, mit den Füßen unmerklich tastend. Sie sah Dahlmann an, aber sie sah durch ihn hindurch, als sei er Glas. Für sie bestand die Welt aus Dunkelheit und Geräusch.
Dahlmann starrte sie stumm an. Unmöglich, dachte er. Sehen können, solch ein Blödsinn! Einer Eingebung folgend, bückte er sich und stellte eine in einer Ecke stehende Bodenvase aus Ton mitten in die Diele, genau in die Laufrichtung, die Luise immer nahm, um das Wohnzimmer zu erreichen. Dann wartete er, an die Wand gedrückt.
Luise ging unbeirrt ihren Weg. Sie schien innerlich die Schritte zu zählen. Die Bodenvase tat ihr leid … sie war ein Andenken an die Mutter. Zu ihrer Konfirmation hatte sie die Vase bekommen, und große, blühende Kirschzweige staken in ihr. Sie hatte immer schon für Bodenvasen geschwärmt, und nun, mit vierzehn Jahren, bekam sie für ihr Zimmer eine eigene …
Ernst Dahlmann beobachtete sie scharf. Jedes kleine Zögern, jedes Stutzen würde sie verraten. Noch zwei Schritte … noch ein Schritt … jetzt –
Luise prallte gegen die Vase und trat sie um. Sie kollerte über den Teppich, schlug gegen die Wand und brach am oberen gewölbten Rand ab.
Luise blieb ruckartig stehen und hob lauschend den Kopf. Sie hockte sich und tastete mit den Händen ihre Umgebung ab, fand nichts, richtete sich wieder auf und lauschte, witternd wie ein Reh. Dahlmann hielt den Atem an. Sie ist blind, dachte er, und dieser Gedanke löste eine innere Verkrampfung. Wie kann es einen Zweifel geben …
»Ernst!« rief Luise laut. »Moni! Ernst!«
Dahlmann ließ die Tür zum Wohnzimmer klappen und kam näher. »Luiserl!« rief er und ergriff ihre suchenden Hände. Ja, er küßte sie sogar, und es war ein ehrlicher Kuß der Freude, denn er war sicher, daß sie nicht sehen konnte. »Warum schellst du nicht? Moni hätte dich abgeholt –«
»Ich bin doch immer allein gekommen. Aber irgend etwas stand im Weg … ich bin dagegengerannt … was war das?«
»Eine Vase!« Dahlmann faßte Luise unter. »Weißt du, die alte Tonvase. Die Putzfrau muß sie falsch hingestellt haben.«
»Ist sie kaputt?«
»Nein. Nur ein Eckchen 'raus. Das kann man kleben. Merke: Fällt dir mal ein Zinken 'raus – lach nur, hast Dahlkleber du im Haus!«
Luise lächelte. Ich möchte weinen, dachte sie. Ich möchte einmal aufschreien und alle Qual, allen Betrug dieses vergangenen Jahres in diesen Schrei legen. Und alle, alle müßten ihn hören. Ein Schrei, der ihn und Moni zerreißen müßte …
Dann saß sie im Zimmer, das Fernsehgerät lief, es war eine musikalische Sendung,
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