Eine Sünde zuviel
unternehmen könne; der zweite Weg führte zu Rechtsanwalt Dr. Kutscher, dem man klarmachen mußte, daß bald eine Einweisung in eine Nervenheilanstalt möglich gemacht werden mußte.
Luise wiederum hatte eine Schäferstunde Dahlmanns mit Monika dazu ausgenutzt, noch einmal Robert Sanden im Stadttheater anzurufen und auch Dr. Ronnefeld nach Herrenhausen zu bitten. Seitdem Dahlmann den alten Hausarzt wie einen verschlissenen Hut entfernt hatte, war das Telefon die einzige, heimliche Verbindung zwischen Luise und ihm. Damals, als Blinde, versuchte sie, ihren Mann und seinen Zorn zu verstehen. Er hatte Dr. Ronnefeld dafür verantwortlich gemacht, in Luise falsche Hoffnungen zu erwecken, die keine Operation erfüllen konnte. Heute erkannte sie, daß der wache Blick Dr. Ronnefelds störte, daß er mehr sah, als Dahlmann lieb war, daß er Ronnefeld entfernen mußte, um mit Monika so vor einer Blinden zu leben, wie er es bisher getan hatte.
Fräulein Pleschke war glücklich, als Luise sie wegschickte. »Lassen Sie mich allein hier, Erna«, sagte sie. »Mich klaut niemand. Ich nehme an, Sie haben Besseres vor, als auf mich aufzupassen …«
Fräulein Pleschke wurde rot, obwohl es ja ihre Pflegebefohlene nicht sehen konnte.
»Wo … woher wissen Sie das?« fragte sie nach der Verlegenheitspause.
»Ich war auch einmal jung, Erna. Mit vierundzwanzig scheint die Sonne doppelt golden, stimmt's?«
Erna Pleschke nickte. »Ja, Frau Dahlmann.« Sie zögerte, und dann sagte sie tapfer: »Er ist Student auf der Pädagogischen Akademie. Er will Lehrer werden –«
»Ein schöner Beruf, Erna. Halten Sie den Knaben fest. Und Pension bekommt er später auch … da kann eigentlich gar nichts passieren. Ein Beamter ist für eine Frau immer ein solides, immer molliger werdendes Ruhekissen, denn mit dem Dienstalter steigt die Pension. Erna – traben Sie los. Lehrer – auch zukünftige – sind meistens genau und Pedanten. Sie warten nicht gerne –«
Fräulein Pleschke entfernte sich schnell mit trippelnden Schritten. Sie hatte sich in Montreux extrem hochhackige Lackschuhe gekauft. Der zukünftige Lehrer liebte langbeinige Mädchen, er hatte es einmal im Gespräch durchblicken lassen.
Eine halbe Stunde später sah Luise Robert Sanden den Weg von der Orangerie herabkommen. Sie kannte ihn nur von der Bühne her, geschminkt und im Kostüm, sie wußte nicht, wie er privat aussah, aber für Luise war es selbstverständlich, daß der braunhaarige, elegante Mann mit den weitausgreifenden Schritten Robert Sanden sein mußte.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Er blieb vor ihrer Bank stehen und sah sie lange stumm an. Luise sah gleichgültig geradeaus, sie war ja blind, sie sah keinen Mann vor sich stehen. Robert Sanden atmete tief auf.
»Frau Dahlmann –«
Luise hob lauschend den Kopf, dann lächelte sie.
»Herr Sanden? Endlich –«
»Ich bitte um Entschuldigung. Gestern mußte ich auf der Probe für einen erkrankten Kollegen einspringen und seine Rolle mimen. Ich konnte einfach nicht weg –«
Er setzte sich neben sie und sah sie wieder an. Die Stille zwischen ihnen war schwer und ausgefüllt vom Suchen nach Worten.
»Ich … ich weiß alles«, sagte Robert Sanden stockend. »Dr. Saviano sagte es mir am Telefon. Es ist furchtbar …« Er ergriff ihre Hand, zögerte und führte sie dann an die Lippen. Eine ehrliche Ergriffenheit war in dieser Geste, das Gefühl, trösten und helfen zu müssen. »Nicht den Kopf hängen lassen …«, sagte er und hielt Luises Hand fest. »Wenn die Operation auch mißlungen ist … Ihre Augen strahlen jetzt, als könnten sie sehen. Sie haben einen Glanz wie lebende Augen –«
»Ist es so?« fragte Luise leise.
»Ja. Professor Siri ist ein Künstler! Wenn sie auch in die Nacht blicken … das Leben spricht wieder aus ihnen …«
»Das haben Sie schön gesagt, Herr Sanden. Es ist schade, daß ich nicht mit einem anderen Kompliment Ihrer Person antworten kann.«
Robert Sanden lachte. »Das wäre auch schwer. Ich bin häßlich, habe eine große, gebogene Nase, ein spitzes Kinn, einen Buckelansatz, eine schiefe Schulter … ich bin, ungeschminkt, prädestiniert, den Glöckner von Notre-Dame zu spielen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.« Luise sah ihn an. Er ist ein schöner Mann, dachte sie. Aber dann erschrak sie. Schon einmal war sie einem schönen Mann verfallen gewesen. Einem Mann, der sie jetzt systematisch vernichten wollte, um zu bekommen, was sein Lebensziel war: Monika, die Apotheke, das
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