Eine Sünde zuviel
Idee?!«
»Eine blendende. Du bist so lieb …« Sie klappte das dicke Blindenschriftbuch zu und stand auf. »Wo ist Moni. Sie war den ganzen Vormittag noch nicht hier. Ist sie krank?«
»Moni? Ach so … Mein Gott, das habe ich ganz vergessen, Luiserl. Moni mußte heute früh, ganz früh schon, weg, zu einem Kunden. Nach Braunschweig. Sie bleibt dort drei Tage. Weil du so fest schliefst, wollte sie dich nicht wecken. Mein Gott, wie vergeßlich ich bin …«
Zweimal in einem Satz sagt er Gott, dachte Luise und strich sich über die Haare. Für die Verpackung einer Lüge braucht er Gott, für die Ummantelung einer Sünde …
Sie fuhren sofort los. Mittag aßen sie in einem Lokal an der Straße nach Wunstorf, dann ging die Fahrt weiter, dem Steinhuder Meer entgegen. Aber Dahlmann fuhr nicht zum See. Vor Wunstorf bog er ab und raste nach Norden.
Luise schwieg. Sie sah hinaus auf die Birkenwälder und Holundersträucher, auf die Weiden und violetten Heideflächen, auf die Ginsterbüsche und die schmalen Kanäle, die aus den Sümpfen in das trockene Land zogen. Es war wirklich ein herrlicher, warmer Tag, einer der letzten Herbsttage, wo es einem schwerfällt, an den vor der Tür stehenden Winter zu glauben.
Dahlmann bog von der Straße ab in einen Feldweg. Er führte zu einem Birkenwald, der abseits des Verkehrs in einer langen, sachten Mulde lag. Luise erkannte plötzlich diesen Platz. Angst schnürte ihr die Kehle zu, sie umklammerte den Griff der Autotür und hatte den Drang, um Hilfe zu schreien, sich aus dem Wagen fallen zu lassen, irgend etwas zu tun, was sie retten konnte vor dem Waldstück, das ihnen immer näher kam.
Sie wußte, was der Wald verbarg. Vor langer Zeit hatte hier ein großes Werk nach feinem Sand gegraben, nach jenem goldgelben, samtenen Sand, mit dem die gewaltigen Urstromtäler der Vorzeit ausgelegt waren. Die Sandgrube hatte man dann aufgegeben, als man auf Kies stieß … Grundwasser war nachgesickert, Regen und Schneeschmelze hatten Wasser in das große Baggerloch gefüllt, aus dem Loch in dem Erdleib war ein kleiner, kreisrunder, über vierzig Meter tiefer See entstanden, umgeben von Birken und Holunder und saftigem, aber hartem Gras.
In diesem kleinen, verträumten See hatten sie einmal gebadet … die Verliebten Luise und Ernst … hier hatten sie sich geküßt, hier war die Einsamkeit der einzige Zeuge ihrer Liebe gewesen, hier hatten sie ein Paradies entdeckt, in dem es wirklich nur sie gab, die Wolken und den Wind und ein paar Hummeln, die um die Grashalme summten. Hier hatten sie sich zum erstenmal gefunden und erkannt, daß sie ein Leben lang zusammenbleiben mußten, weil sie sich liebten, wie sich noch nie zwei Menschen geliebt hatten … so glaubten sie in diesen glücklichen Stunden zwischen Birken und Holunder, liegend im hohen Gras, unendlich selig und in den Träumen mit den Wolken wandernd.
Wieviel Jahre war das her? War es nicht eine Ewigkeit? »Soviel Glück kann man nicht verstehen …«, hatte er damals gesagt. »Dazu braucht man ein ganzes Leben –«
»Wo sind wir?« fragte Luise und berührte den Arm Dahlmanns.
»Wir sind gleich da, Liebes.«
»Wo?«
»Am Steinhuder Meer, Dummes.« Er lachte fröhlich und schielte zu ihr hin. Sie starrte geradeaus. Natürlich, dachte er. Wenn sie blind ist, fährt sie ja durch die Dunkelheit.
»Es ist so still, Ernsti –«
»Ich habe extra nicht die Stellen angefahren, wo sich jetzt alles drängt. Wir wollen diesen schönen Tag möglichst allein genießen. Oder wolltest du Lärm und Trara um dich haben?«
»Nein, Ernst … du weißt doch, ich bin am glücklichsten, wenn ich mit dir allein bin …«
Er antwortete nicht, sondern tätschelte nur ihre Hand. Er brauchte alle Konzentration, um mit dem Wagen über den holprigen Feldweg an den kleinen Baggersee heranzukommen. Nicht weit von der Stelle, an der sie als verliebtes Paar von der Zukunft geträumt hatten, hielt er und half Luise aus dem Wagen.
Er sah auf die Uhr, warum, das wußte er nicht. Kurz vor vier Uhr nachmittags, dachte er nur. Er senkte den Kopf, drückte das Kinn an den Kragen und starrte Luise an, die wie hilflos neben dem Auto stand und darauf wartete, was weiter geschah. Sie rührte sich nicht; wie alle Blinden, verließ sie sich auf die Hilfe anderer, geduldig dastehend, bis sie Zeit hatten, sich um sie zu kümmern.
Dahlmann zögerte. Er sah zurück zu dem runden See. Nach zwanzig Metern fiel das Ufer steil ab zur Wasserfläche. Regen und Sturm, Eis und
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