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Eine Sünde zuviel

Eine Sünde zuviel

Titel: Eine Sünde zuviel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Schnee hatten die Ränder zerklüftet und ausgewaschen. Fast sieben Meter fiel das Ufer steil ab … dann kam das Wasser, über vierzig Meter tief, kalt und klar.
    Dahlmann ging die zwanzig Meter zum See und sah hinab in das Baggerloch. Jetzt wird sich zeigen, ob sie sehen kann, dachte er. Und mit diesem Gedanken kam ein anderer, schrecklicherer Gedanke auf: Was mache ich, wenn sie wirklich sehen kann?! Darauf wußte er keine Antwort mehr … ja, er war versucht, darum zu betteln, daß sie blind sei.
    Luise beobachtete ihn mit eiskalten Schauern. Er will mich töten, dachte sie. Soweit ist es nun … er sucht die Stelle aus, von der er mich hinunter in den Baggersee stürzen kann … zehn Meter von der Stelle entfernt, an der wir die glücklichsten Stunden unserer Gemeinsamkeit erlebten.
    Die Erkenntnis, daß es so weit gekommen war, machte sie plötzlich gleichgültig. Sie wunderte sich selbst über sich … ich bin so geduldig wie ein Schaf, das ins Schlachthaus geht, das Blut riecht, den Kopf hinhält und mit einem Mäh stirbt, dachte sie. Ich wehre mich nicht, ich werde gleich alles tun, was er sagt, ich werde alles erdulden … mein Gott, wie leer ist es in mir geworden … man kann in mich hineinrufen, und nur das Echo hallt wider. Ich habe keine Antwort mehr.
    »Ernsti –«, rief sie, und ihre Stimme war klar. »Wo bist du? Wo sind wir denn?«
    »Hier, Luiserl, hier!« Dahlmann steckte die Hände in die Hosentaschen, sie zitterten wie im Fieber. »Ich suche uns einen schönen Platz. Komm zu mir … komm nur der Stimme nach … es ist ein glatter Wiesenweg … komm nur …«
    Luise zögerte nur eine Sekunde, dann ging sie, steif und aufgerichtet, mit dem merkwürdigen, staksigen Gang der Blinden, der Stimme Dahlmanns entgegen.
    Fünf Meter vor ihm wußte sie, was er wollte. Plötzlich schoß in ihr die Erkenntnis hoch … nicht töten will er mich, er will nur prüfen, ob ich sehen kann, ob ich zögere, wenn ich am Rande des Baggerloches den letzten Schritt mache, den Schritt ins Leere, in den See … oder ob ich stehenbleibe, zurückweiche … vor einem Abgrund, den ich nicht sehen kann, wenn ich blind bin …
    »Komm, Luiserl, komm –«, sagte Dahlmann wieder. »Hier ist ein ganz entzückendes Platzerl. Windgeschützt und schattig. Komm … komm …«
    So lockt man einen Hund, dachte sie und ging weiter. Oder ein Huhn, bevor man es schlachtet.
    Dahlmann trat zur Seite, einen kleinen Schritt aus der Gangrichtung Luises. Sie mußte auf Tuchfühlung an ihm vorbei in den See, wenn sie so unbeirrt weiterging.
    »Wo bist du?« fragte sie und sah ihn dabei an. Aber ihr Blick ging durch ihn hindurch.
    »Hier … komm nur …«
    Sie ging langsam weiter, hochaufgerichtet, die Arme auf dem Rücken, den Kopf etwas erhoben … noch sechs Schritte … fünf … vier … drei …
    Jetzt muß sie zögern, jetzt muß sie langsamer werden, jetzt muß sie stehenbleiben … Dahlmann spreizte die Finger. Schweiß brach auf dem ganzen Körper aus und durchnäßte in Sekundenschnelle seine ganze Kleidung. Es war ihm, als schwämme er in seinem kalten, klebrigen Schweiß.
    Zwei Schritte … noch einer …
    Der Abgrund … das Steilufer … der See …
    Luise war mit dem letzten Schritt an Dahlmann vorbei. Sie schloß die Augen, als sie den Abgrund vor sich sah, das Wasser, in dem sich die Birken spiegelten, und eine kleine, weiße Wolke, die aussah wie ein hockender Hase.
    Gott hilf mir, dachte sie. Gott … Gott … Gott …
    Das rechte Bein hob sich … das staksige Tasten der Blinden, schwebte über dem Wasser … da sprang Dahlmann zu ihr, riß sie an den Schultern zurück, und sein Griff war so hart, seine Kraft so groß, daß er Luise zurück auf die Wiese schleuderte, drei Meter vom Ufer entfernt. Dort fiel sie hin, drehte sich wie ein Wurm und blieb auf dem Rücken liegen.
    »Luiserl!« schrie Dahlmann plötzlich. Etwas brach in ihm auf und zerschlug den Panzer seiner Sicherheit. War es das Grauen, dem er zugesehen hatte, war es die Feigheit, die jetzt überhandnahm … er fiel neben Luise ins Gras, umklammerte sie und küßte sie mit einer wilden Verzweiflung. »Ich liebe dich …«, stammelte er. »Luiserl, glaub mir … ich liebe dich … ich … ich …«
    Er wußte nicht mehr, was er tat. Wie im Wahn eines Schocks handelte er … er fiel über sie her, er rang mit ihr, er zwang sie mit roher Gewalt. Er preßte die Hand auf ihren Mund, als sie schreien wollte. Er spürte nicht, daß sie ihn in die Hand biß, er sah

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