Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
hin.
Tatsächlich schien Melissa zu wanken, ihr Atem ging schnell und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Als sie keinen Ton herausbrachte, glaubte ich schon, sie habe wieder die Stimme verloren. Doch dann brach ein Schrei von ihren Lippen, so laut und durchdringend, dass alle zusammenzuckten. "Nein!", schrie sie und noch einmal, "Nein!" Sie ging einen Schritt auf Frau Brückner zu und sagte mit überraschend kräftiger Stimme: "Nein, sie war es nicht, du warst es." Anklagend streckte sie den Arm gegen ihre Tante aus. In ihrem langen Nachthemd und mit dem wallenden Haar wirkte sie wie ein Racheengel.
"Du warst es!", wiederholte sie entschieden. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sahen fast schwarz aus. Wie in Trance redete sie weiter. "Ich erinnere mich genau. Mathias hatte die ganze Zeit geweint, weil ihm die vielen fremden Menschen in den schwarzen Kleidern Angst gemacht haben. Er war erst ruhig, als ich versprochen habe, ihm die Schafe zu zeigen. Vom Turm aus konnte man die Herde auf der Weide sehen, das wusste ich. Ich habe aufgepasst und Matthias gut festgehalten, aber auf einmal hast du vor uns gestanden. Du hast uns angeschrien, und dann hast du ihn runtergestoßen. Mit mir wolltest du das Gleiche machen, aber ich habe mich gewehrt und dann sind Anne und noch ein paar Leute gekommen. Da hast du gesagt, ich wäre das gewesen, die Matthias geschubst hat. Ich wollte erklären, dass das nicht wahr ist, aber auf einmal konnte ich nicht mehr sprechen ..."
Melissa schwieg erschöpft, doch Anne kam ihr zu Hilfe. "Es stimmt, was sie sagt. Weil du Angst hattest, dass Melissa die Sprache wiederfindet und dich verrät, hast du versucht, sie und Tante Vanessa zu vergiften. Mich hast du dazu benutzt, ihnen das Gift zu geben. Du hast gesagt, es wäre ein Beruhigungsmittel von Dr. Martens, sie müssten das unbedingt trinken. Tante Vanessa hat es getrunken und ist gestorben, aber Melissa hat es zum Glück wieder ausgespuckt. Du hattest dich nicht zu ihnen rein getraut, weil du dachtest, Melissa schreit oder redet, wenn sie dich sieht. Da hast du mich benutzt. Du hast dein eigenes Kind für einen Mord benutzt."
"Ach ja?", entgegnete Frau Brückner gereizt, "wolltest du denn überhaupt mein Kind sein? Du hast dich doch nur bei denen rumgetrieben, die haben dir doch besser gefallen." Sie machte eine Kopfbewegung zu Melissa hin. Die war unter der Wucht der neuen Erkenntnisse leichenblass geworden und schien jetzt tatsächlich kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Zum Glück reagierte die Beamtin neben ihr sofort. Sie fasste Melissa unter und zog sie in ihr Schlafzimmer.
Frau Brückner hatte sich gefangen. "Du bist doch verrückt", sagte sie zu Anne. "Das hast du dir alles in deinem verrückten Kopf ausgedacht. Du wolltest Melissa umbringen, weil du immer eifersüchtig auf sie warst."
"Wenn das so wäre, hätte Ihre Tochter uns wohl kaum alarmiert, als sie Sie in das Haus eindringen sah. Geben Sie auf Frau Brückner. Falls Sie für den Mord an ihrer Schwägerin auch schon Parathion verwendet haben, werden wir Ihnen das noch nachweisen können", mischte sich Gernot in seiner ruhigen Art ein.
Frau Brückner sah ihn abschätzend an, unsicher, wie sie jetzt reagieren sollte.
"Sparen Sie sich die Mühe, es war so", sagte sie dann. Auf einmal wirkte sie ganz gelassen, als sei mit der Notwendigkeit, sich noch weiter zu verstellen, eine Last von ihr abgefallen. Sie schaute sich im Flur um und schien mich erst jetzt bewusst wahrzunehmen. "Ich will mit Ihnen reden", sagte sie als wären alle anderen überhaupt nicht anwesend.
Gernot schüttelte über diese Verkennung der Sachlage resigniert den Kopf. "Frau Brückner, Sie sind wegen mehrfachen Mordes vorläufig festgenommen ... "
"Und alles was ich von jetzt an sage, kann gegen mich verwendet werden", unterbrach sie ihn gereizt. "Das ist mir bekannt, aber ich will reden. Allerdings mit Frau Forster, der ich in zwei Gesprächen schon mehr über mich erzählt habe als allen anderen Menschen in den vergangenen zwanzig Jahren zuvor, meinen Mann eingeschlossen. Von mir aus können Sie gern zuhören", sagte sie an Gernot Schlüter gewandt, "Sie sind doch sicher auf ein umfassendes Geständnis erpicht, dies ist Ihre Chance, es zu bekommen. Und zwar Ihre einzige, danach werde ich nichts mehr sagen."
Gernot schaute mich fragend an. "Würdest du es machen?", flüsterte er mir zu. "Fühlst du dich dazu in der Lage?"
Ja, seltsamerweise fühlte ich mich in der Lage. Die Ereignisse der
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