Eine Trillion Euro
liegt im Leben, Alexandre. Man sollte das Weiterdrehen des Rades nicht verhindern.
Ich persönlich bin felsenfest davon überzeugt, dass es eine Macht gibt, die uns seit Anbeginn der Zeit dazu antreibt, den ursprünglichen Stamm wiederzufinden, umzuformen und ihn neu zu gründen. Wir sind dazu geboren, ein einziges Volk ohne Grenzen und ohne Nationen zu werden, ein vielfältiges Volk, das in der Lage ist, ein Paradies zu erschaffen.
Wir leben mit den Gewissensbissen des Zwanzigsten Jahrhunderts und im Bewusstsein unserer Grenzen. Doch wir sollten davon profitieren, sollten unsere Aufgabe im Rahmen unserer Mittel erfüllen. Wir sind dazu verdammt, mit dieser Welt umzugehen – sie zu beobachten, zu beschreiben und zu fühlen – ohne sie jemals wirklich erreichen zu können.
Unser Ziel ist das große Einssein, die wahre Wiedergeburt. Sie ist unvermeidlich, aber wir neigen nun einmal zur Ungeduld. Lasst uns der Evolution einen Schubs nach vorn geben.«
Als sie verstummt, ist sie außer Atem. In ihren Augen stehen Tränen, ihre Wangen sind feucht. Die ganze Zeit haben wir uns an den Händen gehalten. Mutige, süße Niamh. Hanke steht auf und kommt zu uns herüber, um unsere Rothaarige ebenfalls in den Arm zu nehmen.
Alexandre kommt mit Tee aus der Küche.
»Also, ich finde, etwas Gutes haben diese Traditionen schon!«, erklärt Thomas, den die Gefühlsausbrüche heiter stimmen.
»Was mich bei deinem Entschluss am meisten erstaunt, Man’, ist deine Entscheidung für ein Referendum. Dass Volksentscheide in Belgien gegen das Gesetz verstoßen, hat doch seinen Grund. Es gibt nichts Zwiespältigeres und Schädlicheres. Selbst die Schweizer haben diese Form der Entscheidung inzwischen aufgegeben.
Die Verbindung aller Menschen zu einem Stamm liegt mir ebenso am Herzen wie euch. Aber die Mittel, dorthin zu gelangen, sind nicht die richtigen. Ich habe keine Lust, mir die ganze Nacht aus purem Vergnügen mit Diskussionen um die Ohren zu schlagen. Deshalb will ich versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen.
Ich sehe mich immer noch als Kämpfer für Veränderung und Evolution, aber der Zweck heiligt nicht immer die Mittel. Mit einem Volksentscheid gehen wir ein großes Risiko ein. Wir spannen damit den Karren vor den Ochsen. Zwar hat die Weltbevölkerung viele Dinge gemeinsam, aber Sprache gehört nun einmal nicht dazu. Wenn wir aber nicht einmal in der Lage sind, uns zu verstehen, wie sollten da unsere Fragen, so präzise sie formuliert sein mögen, auch nur den kleinsten Eindruck schinden? Wir könnten nie für die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses garantieren, weil wir nicht für die Eindeutigkeit der Botschaft garantieren können.
Ich weiß, wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, an den Fragen herumzufeilen, um genau diese Hürde zu nehmen. Aber mit einem Referendum gehen wir das Risiko ein, eine Zwei-Klassen-Konstitution zu schaffen. Wir haben uns für Englisch entschieden, weil es eine präzise Sprache ist und fast überall auf der Welt gesprochen wird. Aber eben nur fast überall. Nicht jeder spricht sie, und nicht jeder versteht sie, zumindest nicht unbedingt auf die gleiche Weise.
Ich glaube nicht, dass die Welt für eine solche Konfrontation bereit ist. Dennoch möchte ich das Projekt auf keinen Fall beendet sehen. Allerdings schlage ich vor, die weltweite Durchführung des Projekts Konstitution noch zu verschieben. Wir können meinetwegen diese Nacht damit anfangen, aber wir sollten es vielleicht auf die westliche Welt beschränken. Oder noch besser: auf unser gutes altes Europa. Dann haben wir immer noch genügend Zeit, uns mit Weiterentwicklung und Verbesserung zu beschäftigen.«
Mit diesen Worten setzt er sich. Nasr wirkt wie versteinert. Hanke hat immer noch dieses kleine Lächeln auf den Lippen. Diese Frau ist wirklich außergewöhnlich. Ich kenne niemanden sonst, der seine Gefühle so perfekt verbergen kann, ohne sie dabei aufzugeben. Die meisten Männer haben Angst vor ihr, und das Karnevalsröckchen aus den vielen Krawatten, die sie in Köln abgeschnitten hat, trägt nicht unbedingt zu ihrer Beruhigung bei. Aber darüber lacht sie nur. Sie denkt lieber nicht darüber nach.
Thomas’ Argumente gefallen mir. Seit er am Nachmittag so böse wurde, hatte ich mich ein wenig vor seinem Beitrag gefürchtet. Schließlich war er ganz schön verärgert gewesen.
Keine Wortmeldungen mehr. Nasr und Hanke sehen sich stumm an. Nasr weiß nicht, was er noch sagen soll. Hanke hat keine Lust, zu sprechen.
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