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Eine Trillion Euro

Titel: Eine Trillion Euro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eschbach Andreas
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die anderen Argumente, die Thomas angeführt hat, und ich bin dafür, seiner Anregung zu folgen und das Projekt fürs Erste lediglich auf die Europäische Union anzuwenden. In der EU haben wir mit einer mehr oder weniger homogenen Gesellschaft zu tun, deren Geschichte und Kultur sich in gewisser Weise ähnelt. Unsere Rechtmäßigkeit würde dadurch gestärkt.
    Trotzdem muss ich euch erklären, warum ich ausgerechnet den europäischen Karneval ausgesucht habe, um die Operation Konstitution in Angriff zu nehmen.
    In unserem Projekt waren mir ein paar Fehler aufgefallen, und ich dachte darüber nach, wie man sie umgehen könnte, ohne die ursprüngliche Zielsetzung aus den Augen zu verlieren. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto irrealer und utopischer erschien mir die ganze Sache. Mehr als mir lieb war.
    Jenseits unseres Ziels erkannte ich allerdings die unschätzbaren Informationen, die uns damit in die Hände gelegt würden. Es würde Antworten auf all unsere Fragen geben. Als Anthropologin konnte ich nicht widerstehen. Ich erwartete die Resultate mit einer derartigen Ungeduld, dass mir eine Idee kam.
    Wenn man sich unsere Art zu funktionieren vor Augen führt, fällt auf, wie kompliziert wir sind. Mit dem Fortschritt entdeckten wir die Relativität, mit der Wissenschaft wurden wir von Zweifeln heimgesucht, und mit der Revolution erfanden wir unser Recht auf Glück. Und ganz nebenher erwarben wir uns die persönliche Identität. Gruppenzwänge wurden umso; unwichtiger, je weniger wir die Gruppe brauchten, um unsere Bedürfnisse und Gelüste zu befriedigen. Vorschub leistete hier auch die Schulpflicht. Ihr verdanken wir eine bessere Kenntnis des Räderwerks der Gesellschaft, eine größere Transparenz, ein geschärftes Bewusstsein für Ungerechtigkeit und damit verbunden eine Bereitschaft, Fakten in Frage zu stellen.
    Natürlich existiert immer noch eine gewisse Nostalgie. Alexandres Traditionen. Der Ruhezustand bietet einfach eine höhere Sicherheit als der Wechsel. Wechsel beinhaltet Unbekanntes, Wechsel impliziert Zweifel. Tradition bietet Sicherheit. Sie verwurzelt und rechtfertigt die Normen, die sie selbst schafft, sie verhindert das Nachdenken und erlaubt es, keine Verantwortung zu übernehmen.
    Doch wir wissen alle, dass die Evolution unabwendbar ist. Wenn die Maschine einmal angelaufen ist, kann sie durch nichts und niemand mehr gestoppt werden. In unserer Freizeitgesellschaft sind die Normen nonkonformistisch geworden. Jede Generation stellt die vorhergehende in Frage; die Technologie tut ein Übriges, indem sie Gräben auftut, wo sich die Neuerungen sammeln. Manch einer verliert dabei den Boden unter den Füßen. Die Gesellschaft der Individuen ist noch nicht sehr alt. Wir kennen sie auch noch nicht besonders gut. Aber sie hat unsere Vorstellung von Realität grundlegend verändert.
    Die Humanwissenschaften haben das 20. Jahrhundert damit verbracht, die Menschheit auseinander zu pflücken. Psychologie, Soziologie, Ethnologie und Anthropologie haben nach und nach sämtliche Bastionen der Realität zerstört. Die mentale Landschaft des Westens hat sich radikal verändert. Wir wissen, dass wir existieren, wir wissen, dass wir uns trotz aller Unterschiede ähnlich sind, wir wissen, dass wir alle gleich sind. Der Mensch hat seinen Platz im Universum, ebenso wie jedes andere Lebewesen. Der Mensch hat eine gewisse Verantwortung gegenüber dem Universum. Jedes Ereignis hat einen Grund und eine Konsequenz. Die Religionen und Institutionen wurden wie viele andere Orientierungspunkte von diesem Sturm hinweggefegt.
    Das Individuum wurde geboren, weil wir uns in der Flaute der Moderne zur Wehr setzen mussten, ohne uns an der kleinsten Gewissheit festklammern zu können. Als Resultat dieser dauernden Konfrontation definiert man sich schließlich selbst über die Auswahlmöglichkeiten, die man geboten bekommt. Man erreicht die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, die eigene Realität zu erkennen, um seine Willensfreiheit nicht zu verlieren. Aber in Wirklichkeit hat man niemals eine Wahl …«
    An dieser Stelle brachte ich sie tatsächlich zum Lächeln.
    »Wir sind Pilger des Zweifels. Wir sind nicht in der Lage, uns einer herrschenden Doktrin anzuschließen, obwohl die Versuchung groß ist. Wir sehen uns ständig gezwungen, Darstellungen mit unserer eigenen Beobachtung zu vergleichen und die Massen an Information nachzuhalten. Die Vernichtung der Norm hat den Ich-Kult ins Leben gerufen, und es ist kaum mehr

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