Eine Trillion Euro
beinahe aus meinem Gedächtnis entschwunden. Was mir geblieben ist, sind die scharfen Züge meines eigenen Antlitzes im Spiegel. Und jeden Tag sehe ich, wie das Alter auf dem Schlachtfeld meines Gesichts an Boden gewinnt.«
In weiter Ferne glaubte Laïra, Musik zu hören: eine komplexe Komposition miteinander verflochtener Harmonien, deren Töne für ein normales menschliches Ohr kaum zu hören waren.
In einem Saal, der etwa die Abmessungen der Quotierungsarena besaß, nahmen Hinrik und Laïra an einem gut zwanzig Meter langen und zwei Meter breiten Tisch Platz. Die Frau öffnete ein kleines Schränkchen, holte zwei Gläser heraus und schenkte ihnen aus einer schlanken grünen Flasche einen roten Trank ein.
»Wein«, erklärte sie den beiden. »Die Robos sind exzellente Winzer und die tiefergelegenen Hänge der Alpen ein gutes Anbaugebiet. Mein Name ist übrigens Eleonyra. Ich bin im Jahre 2273 aus Eurwest geflohen. Alle paar Jahrzehnte einmal gelingt es jemandem, der Quotierung zu entkommen. Eure Flucht ist selbstverständlich entdeckt worden. Daraus folgt, dass auf Jahre hinaus niemand durch die Maschen des Netzes wird schlüpfen können.«
Sie erhob sich und machte eine gebieterische Geste.
»Dies alles wird bald einem von euch beiden gehören.«
Erschrocken starrten Laïra und Hinrik sie an.
»Einem von uns beiden?«, fragte Hinrik.
Eleonyra nickte.
»So hat von Schoppen es bestimmt. Bald werde ich den Palast verlassen, und es wird an einem von euch beiden sein, der Palastbewohner, der Hüter des Palastes der Menschheit zu werden. Heute Nacht könnt ihr unter euch ausmachen, wer das sein soll.«
»Und der andere?«, wollte Hinrik wissen.
Eleonyra schwieg eine Weile.
»Tot«, sagte sie dann schlicht. »Hinter der schwarzen Tür.« Sie deutete auf eine kleine Tür neben dem Schrank.
»Der Vorteil ist, dass die Robos dir helfen werden, ohne Schmerzen zu sterben.«
Laïra war überrascht darüber, dass sie das alles immer noch durchhielt. Vielleicht hatte die Reihe schockierender Ereignisse an diesem Tag, ihrem Jahrestag zumal, sie einfach abgehärtet.
Eleonyra servierte ihnen ein reichhaltiges Mahl und erwies sich als angenehme und beruhigende Gesellschaft. Anschließend brachte ein Robo sie zu einem sehr geräumigen und luxuriösen Zimmer.
Sie entkleideten sich und liebten einander wortlos und verzweifelt in einem großen Himmelbett, da sie genau wussten, dass dies ihre letzte gemeinsame Nacht sein würde.
Sie sah ihn an und suchte nach Worten.
Hinrik wich ihren Blicken aus und fiel bald darauf in Schlaf.
Laïra saß noch eine Zeit lang aufrecht im Bett und fällte dann eine Entscheidung. Mitten in der Nacht schlüpfte sie lautlos aus dem Bett, um zu der Tür hinüberzugehen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Hinrik nicht im Bett lag. Kälte kroch ihren Rücken empor. Sie rannte zurück in den Saal, wo Eleonyra schon auf sie wartete.
»Hast du Hinrik gesehen?«, fragte sie atemlos.
Eleonyra stand vor der schwarzen Tür, lächelte und deutete hinter sich.
»Er hatte dasselbe vor wie du. Er wusste nur, dass er dir zuvorkommen musste.«
Einen Tag und eine Nacht lang trauerte Laïra um ihren Ehepartner und ertrank beinahe in Selbstvorwürfen und Selbstmitleid. Dann kam Eleonyra sie holen. Sie trug ein schwarzes Gewand und duftete nach den Blüten eines neuen Frühlings.
»Komm, Laïra, Hüterin des Palastes der Menschheit. Wir werden für deinen Hinrik einen besonders schönen Platz im Palast suchen, nahe der Treppe, die zum Tunnel führt. Freue dich, denn sein Körper wird unversehrt bleiben. Er wird nicht desintegriert und zu Bausteinen verarbeitet werden.«
Laïras Tränen waren versiegt. Hinriks Begräbnis verschaffte ihr Genugtuung. Als sie zum Palast zurückgingen, hörte Laïra wieder die Musik, oder besser gesagt, sie hörte die Musik eben gerade nicht.
Sie schien aus den Gärten rund um den Palast auf einer sanften Brise herbeizuwehen.
»Diese Musik?«, fragte sie. »Woher kommt sie?«
Eleonyra lächelte.
»Musik? Ich höre keine Musik.«
Sie gingen hinein und betraten den Saal.
»Meine Aufgabe ist vollbracht«, sagte Eleonyra. Sie schien es plötzlich eilig zu haben.
»Warum?«, fragte Laïra. »Warum muss es so geschehen, wie es geschieht? Warum muss ich dies alles alleine durchstehen?«
Die Hüterin sah sie mit einer Art amüsierter Überraschung an.
»Ich weiß es nicht. Das Leben ist voller Fragen. Wirkliche Antworten erhält man nur selten. Warum hat von Schoppen es
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