Eine Trillion Euro
so festgelegt? Ich frage mich, ob er es selbst überhaupt wusste. Er hat eine ganze Anzahl Tagebücher hinterlassen; lies sie einmal durch. Du wirst vermutlich alle Zeit dafür haben.«
Sie drehte sich um und sagte über die Schulter: »Ich bin nur erleichtert, dass es jetzt vorbei ist. Siebzig Jahre in völliger Einsamkeit, während um dich herum Millionen menschlicher Seelen in Stein gefangen sind … ich frage mich, warum ich nicht verrückt geworden bin. Vielleicht hat die Musik mich gerettet.«
Ein Anflug von Verwunderung glitt über ihr Gesicht.
»Die Musik«, seufzte sie, »ach …«
Sie redete nicht weiter und verschwand durch die schwarze Tür aus Laïras Leben.
Laïra versuchte, sich an das vollkommen einsame Leben im Palast zu gewöhnen. Sie trauerte um Hinrik, besuchte jeden Tag sein Grab und stellte frische Blumen in die goldene Vase. Sie schrieb Gedichte, hielt sich oft in der Bibliothek auf und las in von Schoppens Tagebüchern, ohne wirklich zu ergründen, warum dieser Mann das Leben einer Anzahl mutiger Menschen so dramatisch hatte festlegen wollen. Sie ließ sich von den vielen Robos verwöhnen, die den Palast und die nähere Umgebung instand hielten, und suchte nach einem Fluchtweg in Richtung Östreich-Schweiz – ohne jedoch einen zu entdecken.
Aber vor allem versuchte sie viele Jahre lang, hinter die Herkunft der Musik zu kommen, die sie jeden Tag immer wieder einmal beinahe hören konnte. Krank vor Melancholie hörte sie schließlich nach fünfundzwanzig Jahren damit auf, aber einige Jahre darauf irrte sie von neuem durch die Gänge und Säle des Palastes sowie die schier endlosen Gärten, ohne die Quelle der Musik zu entdecken. Irgendwann begann sie, das Ganze als eine Art Ritual anzusehen, wie all ihre täglichen Handlungen zu Ritualen geworden waren. Kurz bevor aus ihrer Erinnerung das Wissen darum entschwand, dass Musik den Palast und die Gärten durchwehte und die Steine Klänge hervorbrachten, die das menschliche Ohr nicht wahrzunehmen vermochte, entsprang ihrem Geist ein Ehrfurcht gebietender Gedanke. Sie erinnerte sich an den Ton während eines Vollzugs in der Arena. Mit geweiteten Augen starrte sie die rosaroten Steine an. War es möglich, dass der Palast der Menschheit selbst die Quelle dieser himmlischen, ungehörten Musik war?
Der Gedanke verwehte und entschwand aus ihrem Gedächtnis.
Einsamkeit schlug ihre kühlen Arme um sie. Trauer um einen dereinst verlorenen Geliebten, der nicht Hinrik war, nistete sich in ihrem Empfinden ein wie ein leichter, allzeit gegenwärtiger Kopfschmerz. Die Falten kamen, aber sie spürte nicht, wie sie älter wurde. Sie bewegte sich weniger und ließ stattdessen die Robos mehr und mehr Aufgaben übernehmen. Einmal in der Woche besuchte sie Hinriks Grab. Danach irrte sie durch die Gärten, auf der Suche nach etwas, das nicht länger über die Schwelle ihres Gedächtnisses zu schlüpfen vermochte.
Dann, eines Tages, irgendwann in ihrem sechsundfünfzigsten Jahr als Hüterin, stand ein verwilderter junger Mann oben an der Treppe, und sie übertrug ihm den Palast mit einem Gefühl übermenschlicher Erleichterung. Der Junge, der höchstens zwanzig Jahre alt sein mochte, trug den Namen Joachim, nach dem Begründer der Quotierung.
Er fragte sie, woher die Musik käme, worauf sie freundlich lächelnd antwortete: »Musik? Ich höre keine Musik.«
Einen Augenblick lang leuchtete es in ihren Augen auf. Ein Fetzen von Erinnerung kehrte für einen Moment zurück: Hinriks Stimme.
»Verstummte Musik«, flüsterte sie vor sich hin. Im nächsten Augenblick verschloss sich ihr Gedächtnis erneut, und sie sah Joachim mit einem heiteren Lächeln an. Sie bat ihn, weiterhin frische Blumen auf Hinriks Grab zu legen, und trat dann mit einem Gefühl inneren Friedens durch die schwarze Tür.
Wolfgang Jeschke
Kommen wir zum Finale und zum, wenigstens meiner Auffassung nach, Höhepunkt unserer Rundreise durch die Visionen der besten europäischen Science-Fiction-Autoren. Es ist mir eine besondere Freude, die Gestaltung dieses Finales in die Hände keines Geringeren legen zu können als in die Wolfgang Jeschkes.
Muss man Wolfgang Jeschke noch vorstellen? Einem Science-Fiction-Leser sicher nicht, und wir tun es hier auch nur in der Hoffnung, dass es Leser geben möge, für die das vorliegende Buch den Erstkontakt mit der wundersamen Welt der Science-Fiction darstellt.
Wolfgang Jeschke wurde 1936 in Tetschen (im heutigen Tschechien) geboren und wuchs in Asperg bei
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