Eine Trillion Euro
sie. Laïra versuchte zu lächeln, aber die immer noch zunehmenden Beschleunigungskräfte erlaubten das nicht. Die Zeit verlor alle Bedeutung. Sie vermutete, dass die Kapsel inzwischen ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie versuchte, ihren Geist frei zu machen, und konzentrierte sich darauf, genügend Luft einzuatmen. Dennoch spürte sie, wie sie langsam in die Bewusstlosigkeit hinüberglitt.
»Laïra!«
Hinriks scharfe Stimme zischte ihr ins Ohr. Er zog sie am Arm aus der Kapsel.
»Du tust mir weh«, stammelte sie benommen.
»Sie haben uns entdeckt.«
Sie sah sich verwirrt um. Sie befanden sich jetzt in einer ähnlichen Halle wie der, aus der sie aufgebrochen waren. Dann hörte sie die Wachen.
»Stehen bleiben! Sie begehen eine Übertretung.«
Drei Gestalten in weißen Anzügen rannten mit ruckartigen Bewegung auf sie zu: Robos. Hinrik schleifte sie zu einer Doppeltür, hinter der blasses Licht schimmerte. Die Tür glitt auf, und sie rannten eine lange steinerne Treppe hinauf, die sie ans Tageslicht brachte. Sie mussten wegen des ungewohnt grellen Lichts die Augen zusammenkneifen, als sie ins Freie gelangten.
Eine Vielfalt hautfarbener Bausteine nahm ihnen die Aussicht und brachte sie zum Stehen. Dahinter ragten schimmernd die Alpengipfel empor.
»Der Palast der Menschheit«, murmelte Laïra, die von einer unbeschreiblichen Gefühlsregung übermannt wurde. Es gab ihn also doch.
»Verstummte Musik«, seufzte Hinrik, der ebenfalls von Gefühlen überwältigt war. Vor Ehrfurcht setzte er beinahe flüsternd hinzu: »Der Palast wird sich als Verstummte Musik manifestieren, jeder ungehörte Ton ein Leben, jede angespielte Harmonie eine Familie, jeder verschwiegene Teil ein Volk.«
Das waren Worte von Joachim von Schoppen, dem geistigen Vater des Quotierungsgesetzes, dem Planer und Stifter des Palastes.
Die aus barocken, beinahe schon kitschig anmutenden Standbildern, Baldachinen, Seitenschiffen, Bogenfenstern, Ausstülpungen und komplizierten Ornamenten bestehende Reihe von Türmen und Gebäuden kam Laïra vertraut vor. Sie musste an die Abbildung einer alten Kathedrale denken, die sie einmal gesehen hatte. Sie erinnerte sich an den Namen des Bauwerks: Sagrada Familia, irgendwo im Süden Europas. Der im funkelnden Sonnenlicht badende Palast umfasste mehr als hundert Sagrada Familias, war zehnmal höher und tausendfach verwickelter. Und er wuchs jeden Tag.
»Millionen Menschenleben«, sagte Hinrik.
Laïra blickte zur Seite und sah Tränen in den Augenwinkeln ihres Ehepartners und Lebensretters. Unwillkürlich wallten auch in ihren Augen Tränen auf. Dann begriff sie, dass sie stehen geblieben waren, und drehte sich erschrocken um. Zu ihrer Verblüffung war von den Verfolgern keine Spur zu sehen. Auch Hinrik wandte seine Aufmerksamkeit von dem Bauwerk ab und blickte nach hinten. Er nickte, als hätte sich seine Vermutung bestätigt.
»Dies ist verbotenes Gelände«, flüsterte er.
»Das kann man wohl sagen«, entgegnete eine sanfte Stimme.
Als sie wieder nach vorne blickten, stand eine alte Frau in einem langen Gewand aus grüner Seide vor ihnen. Sie hatte dunkelgrüne Augen und ebenmäßige Gesichtszüge, die von vielen Falten zerfurcht waren. Ihre Haut wirkte beinahe transparent. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein. Mit ihren gebrechlichen Fingern machte sie eine einladende Geste.
»Kommt mit, dann zeige ich euch meinen Palast.«
Sie drehte sich um, ohne ihre Reaktion abzuwarten, und ging ihnen mit auffallend erhabenem Schritt voran.
Hinrik und Laïra setzten sich in Bewegung und folgten ihr.
»Deinen Palast?«, fragte Laïra mit überraschtem Unterton in der Stimme.
Die Frau zuckte mit den Achseln und antwortete, ohne ihren Schritt zu verlangsamen: »Wenn du siebzig Jahre allein in den Mauern eines solchen Gebäudes zubringst, betrachtest du es schließlich irgendwann als dein Eigentum. Außerdem führe ich offiziell den Titel Hüterin des Palastes der Menschheit.«
Sie betrat einen gepflasterten Pfad, der über einige Windungen steil empor führte und vor einer hohen, schmalen Tür endete.
»Die Nächte sind am schlimmsten«, sagte die Frau leise, während sie die Tür öffnete und hineinging.
Ein leichter Brandgeruch hing in der Luft. Die Frau schien der Meinung zu sein, dass Laïra und Hinrik wussten, wovon sie sprach.
»Vor allem in den letzten Jahren ist es mir immer schwerer gefallen«, fuhr sie fort. »Die Gesichter meiner Angehörigen sind
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