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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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und blickte über einen breiten Streifen trüben gelben Meerwassers hinweg auf eine lange Dunstbank am Horizont, hinter der die Sonne soeben in flammendem Triumph unterging. China lag vor ihr — das ersehnte Ziel ihrer Reise! Man konnte diesen Landstreifen zuerst für eine Wolkenbildung halten; und obgleich der Anblick weder besonders schön noch interessant war, starrte Gladys doch wie gebannt durch das Fernglas, bis alle Farbe am Himmel gewichen und alles von der Nacht verschlungen war.
    In Tientsin traf sie auf eine große Missionsstation, wo viele chinesische Christen unterrichtet wurden. Ja, sie hatten von Frau Lawson gehört. Soweit man wußte, war sie in der Provinz Schansi in Nordchina, wo sie in einer alten, von Mauern umgebenen Stadt namens Tsechow ein Missionshaus leitete. Das Gebiet lag nördlich des Gelben Flusses und war außerordentlich wild und bergig. Um dorthin zu gelangen, brauchte man mehrere Wochen. Nun, sie würden herumschicken und überall fragen lassen, ob jemand in dieser Richtung ins Hinterland zu fahren gedenke und Gladys mitnehmen könne. Inzwischen fand sie im Missionshaus freundliche Aufnahme.

    Nur sieben Tage brauchte sie zu warten. Dann saß Gladys im Zug, der rasch Tientsin mit seinem Kranz europäisierter Vororte hinter sich ließ. Der Puls der Wagenräder nahm ihre eigene Erregung auf. Sie war also wirklich in China, und nun ging es Tag für Tag ein Stück tiefer hinein in das geheimnisvolle Land. Herr Lu, ein ernsthafter junger Mann in dunklem chinesischem Gewand und Trilbyhut, sollte sie noch ein Stück auf der Weiterreise begleiten; er hatte in Schansi zu tun. Auch er war Christ. Gladys hatte ihren letzten Reisescheck eingewechselt, um einen chinesischen Paß zu kaufen, der für die Reise ins Land gebraucht wurde. Sechs Schillinge waren alles, was sie noch besaß. Aber das störte sie nicht, während der Zug durch die flache langweilige Landschaft dahinholperte, an deren westlichem Horizont sich aber schon im gewaltigen Halbkreis bläulich-violette Berge gegen den Himmel wölbten. Das Land war fruchtbar. Bauernhöfe und Dörfer, von Lehmmauern geschützt, lagen mit ihren schattigen Baumgruppen zwischen den Feldern. An jede Siedlung schloß sich der Friedhof an, umgeben von steinernen Mauern mit schön gearbeiteten Toren; hier ruhten seit Generationen die geliebten und heilig gehaltenen Ahnen. Bauern im blauen Kittel, auf den der dünne schwarze Zopf herabfiel, trieben auf den Straßen ihre zottigen Mongolenponys an. Diese Ponys, die die schweren zweirädrigen Karren zogen, waren fast ebenso berühmt wie die andächtig verehrten, längst dahingegangenen Ahnen.
    Auf diesen Ponys hatten die Horden Tschingis-Khans das Land überrannt, um ihr Reich nach Süden auszubreiten. Und gegen die immer wieder heranbrausenden Wellen von Angreifern war endlich die Große Chinesische Mauer gebaut worden, 2500 km lang. Menschen konnten diese Befestigung vielleicht erklettern, aber Pferde nie. Auf ihren Ponys waren die Tataren so flink und so verheerend wie Heuschrecken. Mußten sie zu Fuß kämpfen, waren sie nichts als kleine, krummbeinige Männer, denen das chinesische Heer Einhalt gebieten konnte.
    Gladys Aylward beglückte diese Fahrt. Wie fremdartig war alles: das in der Ferne drohende wilde Gebirge; zuweilen eine schaukelnde, lehmfarbene Karawane von Gobikamelen, schließlich die aufragenden Mauern von Peking mit ihren viereckigen Wachttürmen — und dann die Stadt selbst, eine Stadt der Tempel und Pagoden, der Statuen und kleinen Teiche, in denen sich die Lotosblüten spiegelten: China!
    Sie übernachteten in Peking; am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter. Drei Tage lang, dann hielt der Zug zum letztenmal. Der Schienenweg war zu Ende. Jetzt gab es nur noch wackelige alte Omnibusse. Nachts stiegen sie in den überaus primitiven chinesischen Herbergen ab. Es gab da keinen Winkel, den Gladys für sich hätte in Beschlag nehmen können; alle schliefen auf dem K’ang, dem gemeinschaftlichen Backsteinbett. Heiße Luft vom Ofen erwärmte von unten her das steinerne Lager, und niemand zog sich aus. Mit philosophischer Ruhe versuchte man, wenigstens ein paar Stellen seines Körpers vor den hungrigen Flöhen und Läusen zu retten. Gladys war für diese Feinschmecker offenbar eine ganz besondere Delikatesse, von weit her importiert.
    Die Provinz Schansi wird im Süden und Westen vom mächtigen Hoang-ho begrenzt, dem Gelben Fluß. Er entspringt in der fernen Provinz Kansu und windet sich als

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