Eine unberührte Welt - Band 1 (German Edition)
könnte man mal ganz bescheiden, ganz vorsichtig, in Deckung vor den Tomaten – darauf hinweisen, dass nach den Regeln der Mathematik und der Kalenderleute ein Jahrhundert ja eigentlich erst mit dem Jahr Eins beginnt. Das wussten Sie nicht, was? Ja, ist aber die Wahrheit, das bestgehütete Geheimnis aller Leute, die an Silvester 1999 verdienen wollten, aller Entertainer und Fernsehmacher und und und – dass das neue Jahrtausend eigentlich erst 2001 angefangen hat. So hat man uns angeschmiert, wie man uns dauernd anschmiert, aber für eine Kolumne gibt das auch nichts her. Lassen wir es also.
Da fällt mein Blick auf meinen Computerbildschirm, und ich sage mir, warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Thema liegt so nah. Da, direkt vor meinen Augen, kann ich verfolgen, wie der Text, den ich spreche, in Form wohlgeformter Worte auf dem Schirm auftaucht, nahezu ohne Schreibfehler und mit einer Zeichensetzung, die besser ist als alles, was ich auf diesem Gebiet je gekonnt habe. Da haben wir doch ein hübsches Thema – die Sprachschnittstelle. Ein alter Hut? Warten Sie es ab. Lassen Sie mich erst mal ein paar Gedanken dazu ausbrüten.
So lange ist das ja noch gar nicht her, nicht wahr? Ein paar Jährchen bloß, und meine Güte, war das eine Sensation damals, als das ins Windows soundso viel eingebaut war und Computer mit eingebautem Mikrofon ein absolutes Muss wurden. Spracherkennungssoftware. Und zwar endlich eine, die funktionierte. Die nicht nur funktionierte, sondern sogar hervorragend funktionierte. Sehen Sie? Sie hat sogar erkannt, dass ich gerade ein Wort betont habe, und es kursiv gedruckt. Das ist doch wirklich erstaunlich, wenn man es sich überlegt. Endlich fühlte man sich so richtig verstanden von seinem Computer, und darauf hatten wir doch alle nur gewartet.
Gut, eine Schweigeminute für all die Sekretärinnen, die dadurch arbeitslos wurden.
So viele waren es übrigens gar nicht. Welcher Chef hat denn in den neunziger Jahren noch Briefe diktiert? Die hat er doch lieber gleich selber geschrieben. Oder eben gesagt, Fräulein, schreiben Sie an Müller und Partner, dass wir das Angebot für zu hoch halten, und sie sollen nochmal zehn Prozent runtergehen. Und so einen Brief dichtet einem auch heute noch kein Computer von selber. Nächstes Jahr vielleicht, aber bis dahin … Okay. Also, das war die schöne neue Welt von Winword zehn-null: Mikrofon einschalten und sprechen, den umgesetzten Text korrigieren, und was das Schönste war, das System lernte aus diesen Korrekturen und war in kürzester Zeit so gut wie perfekt, schrieb besser als man es selbst gekonnt hätte. Und natürlich dreimal so schnell. Halleluja.
Gut, ich gebe zu, man könnte sagen: Es musste so kommen. Musste es wohl. Ich will auch nicht bestreiten, dass das Ganze ziemlich vorteilhaft ist für Geschäftsleute, und für Professoren, denke ich. Aber – Leute, jetzt kommt das Aber, das allwöchentliche, gewohnte, kolumnentypische Aber – das Ganze hat einen riesigen Nachteil. Und ich will diesen Nachteil einfach mal in zwei lausige Worte pressen:
Jeder schreibt!
Und eigentlich stimmt das auch nicht. Eigentlich schreibt keiner mehr. Jeder rülpst nur noch in seinen Computer, sondert irgendwelche Laute ab, brabbelt und sabbert und verkauft das, was dabei herauskommt, als Literatur. Am Anfang war das noch ganz witzig, aber wirklich nur ganz am Anfang. Weil – natürlich liest jetzt auch keiner mehr. Ist ja auch alles andere als spaßig, sich durch einen fünfhundert Seiten dicken Schmöker in dieser Art hindurchzulesen. Vor allem, weil man sich dasselbe Zeug leicht selber erzeugen kann. Wenn einer den ganzen Tag Selbstgespräche führt, sind fünfhundert Seiten schnell zusammen.
Also, kurz gesagt, hat die Sprachschnittstelle dazu geführt, dass die heutige Literatur einfach nur noch Dumpfmist ist. Blödes Zeug, das Papier nicht wert, auf das es selbstmörderische Verleger immer noch drucken. Aber jeder ist so begeistert davon, dass er jetzt selber Kunst machen kann, dass alle Welt zu glauben scheint, Literatur müsse schon immer so gewesen sein. Und vor lauter Begeisterung kauft keiner mehrBücher, die Verlage gehen reihenweise pleite, und die zeitgenössische Literatur vagabundiert heute eher im Internet als auf Papier. Und wenn so ein Elaborat mehr als hundert Mal von irgendwoher auf der Welt kopiert wird, dann feiern die ewig beschränkten Herausgeber der elektronischen Literaturmagazine das gleich als Bestseller.
Von wegen
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